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Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)

Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)

Titel: Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
Autoren: Anna Maria Scarfò
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Atemzug.
    »Dreckige Schlampe«, schreit die Frau. Und das Echo antwortet: »Einmal Hure, immer Hure.«
    Violette Wolken drücken auf die mit Früchten reich beladenen Zweige der Mandarinenbäume, die hinter dem Haus mit den verrammelten Fenstern stehen.
    Das Auto fährt weg. In der Luft mischt sich der Geruch nach verbranntem Olivenholz mit dem von Zitrusfrüchten.
    Der Winter geht zu Ende.

Die Torte
    I ch mag Torte, und zwar mit viel süßer Schlagsahne und jeder Menge roten Erdbeeren drauf. Und herzförmig muss sie sein.
    Mit der Torte zu meinem dreizehnten Geburtstag hat alles angefangen.
    Ich heiße Anna Maria Scarfò und lebe in San Martino di Taurianova. Ich bin in Kalabrien geboren, aufgewachsen und habe immer hier gelebt.
    Ich kann mir keinen anderen Ort zum Leben oder zum Sterben vorstellen.
    San Martino ist ein hässliches Dorf, sagt meine Schwester immer. Aber ich mag es. Hier gibt es niedrige Häuser und Olivenfelder. Mandarinenbäume. Und meine Familie. Ich kann hier stundenlang mit dem Fahrrad herumfahren.
    Ich brauche nicht viel, um glücklich zu sein. Habe ich nie gebraucht. Vielleicht liegt darin meine Schuld.
    Es ist Ende März 2010, der Monat, in dem alles begonnen hat: am 11. März vor elf Jahren.
    Alles hat mit einer Geburtstagstorte angefangen.
    * * *

    An jenem Nachmittag sagt meine Mutter zu mir, dass ich die Zutaten für meine Torte einkaufen gehen darf. Sie will eine dreistöckige Torte für mich machen. Mit Erdbeeren und Sahne. Sie gibt mir das Geld dafür. Aber bevor ich die Sachen kaufe, gehe ich erst auf die Piazza: Heute ist mein Geburtstag, und ich möchte mich dort sehen lassen, damit mir alle, die mir begegnen, gratulieren. Ich bin dreizehn Jahre alt. In ein paar Monaten werde ich den Abschluss nach der achten Klasse machen. Aus mir wird langsam eine Frau.
    Ich drehe meine Runden. Erst als ich von den vielen Glückwünschen beinahe platze, gehe ich in Richtung Lebensmittelladen, um Mehl, Eier und die Hefe für den Teig zu kaufen.
    Als ich mit der Tüte im Arm das Geschäft verlasse, kommt auf der Straße ein Auto heran und fährt neben mir her. Es hupt.
    »Hallo, Annarella, wo willst du hin?«
    Es ist Domenico. Domenico Cucinotta. Ich kenne ihn, obwohl er viel älter ist als ich. Er ist schon zwanzig.
    »Hallo. Ich war einkaufen. Heute ist mein Geburtstag. Jetzt gehe ich wieder nach Hause«, sage ich stolz zu ihm gewandt, aber ich gehe weiter.
    Domenicos Wagen folgt mir. Neben ihm sitzt sein Freund. Er heißt auch Domenico. Domenico Iannello. Doch der sagt nichts zu mir. Im Ort sind nie viele Autos unterwegs. Ich gehe langsam weiter. Und Domenicos Wagen fährt weiter neben mir her.
    »Komm schon, Annarella, bleib doch mal stehen. Weißt du eigentlich, dass du schön bist? Wirklich schön.«
    Ich lächele.
    »Komm, bleib stehen. Ich möchte dir zum Geburtstag gratulieren, so, wie es sich gehört.«
    Ich gebe seinen Schmeicheleien nach und bleibe, die Tüte im Arm, auf dem Bürgersteig stehen. Die beiden Männer bleiben im Wagen sitzen. Domenico lässt den Arm aus dem Seitenfenster hängen. Seine Augen hinter den Brillengläsern mustern mich zärtlich von oben bis unten.
    Ich erschauere.
    Ist es so, wenn man dreizehn Jahre alt ist? Ist es so, eine Frau zu werden? Ich habe noch nie einen solchen Blick auf mir gesehen oder gespürt. Und jetzt sagen seine Worte dasselbe wie seine Blicke.
    »Weißt du eigentlich, Anna, dass ich dich schon eine Weile beobachte? Du interessierst mich. Ich will was von dir.«
    »Was willst du denn?«, frage ich frech.
    »Ich möchte mich mit dir treffen. Ich möchte mich mit dir verloben.«
    »Du willst dich verloben?«
    »Sicher.«
    »Heute habe ich keine Zeit. Ich muss nach Hause. Ich muss meiner Mutter helfen, die Torte zu backen. Wir reden morgen darüber. Um drei komme ich zur Chorprobe in die Kirche. Wir treffen uns danach. Hinter der Kirche. Um fünf Uhr. In Ordnung?«
    Ich hebe die Tüte auf, die ich in der Zwischenzeit auf dem Boden abgestellt hatte, und wende mich ab. Dann mache ich mich auf den Heimweg.
    »Alles Gute, Püppchen. Wir sehen uns morgen. Einen schönen Geburtstag«, ruft mir Domenico nach, dann gibt er Gas und fährt ohne ein weiteres Wort davon. Aber mir genügt das.
    Ich bin dreizehn Jahre alt und habe vielleicht ab morgen einen Verlobten.
    * * *
    An die Begegnung mit Domenico Cucinotta und Domenico Iannello kann ich mich Wort für Wort erinnern. Ich erinnere mich an Cucinottas Blick. Daran, wie die Torte geschmeckt hat, die meine
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