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Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)

Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)

Titel: Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
Autoren: Anna Maria Scarfò
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Du kannst uns so oft anzeigen wie du willst, die können ja doch nichts tun.«
    Anna ist sofort nach Hause zurückgelaufen.
    Sie bekommt keine Luft mehr.

Ave Maria
    G egrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir.
    Die Nacht vor Ostern. Heute ist Messe, und ich darf abends aus dem Haus gehen, weil ich im Chor singe. Das ist ein Ereignis. Seit dem Morgen bin ich schon aufgeregt, ich bin sehr früh aufgewacht, so sehr freue ich mich darauf, dort heute Abend zu singen.
    Ich ziehe mich langsam an. Ein schwarzes Röckchen. Einen grünen Pullover. Flache Schuhe. Ohne Strümpfe. Meine Haare duften frisch, und ich habe sie mit einem Eisen geglättet. Ich schminke mich. Male mir Blau auf die Augen. Im Bad verfolgt meine Schwester gebannt, wie ich geschickt und rasch den Lidschatten verteile. Meine Mutter schminkt sich nie. Ich weiß nicht einmal, von wem ich gelernt habe, Kajal, Lidschatten und Lippenstift zu benutzen. Das habe ich mir bei den älteren Mädchen abgeschaut. Ich habe sie beobachtet. Und den Lidschatten hat mir eine Freundin geschenkt, die schon siebzehn ist. Es ist nicht mehr viel drin, deshalb benutze ich ihn nur bei besonderen Gelegenheiten.
    Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.
    Während ich mich im Bad schminke, singe ich diese Worte leise vor mich hin, empfinde jedes einzelne tief in meinem Herzen nach, bevor ich es über die Lippen kommen lasse. Ich mag nicht an Domenico denken. An das, was auf dem Land passiert ist. Heute Abend will ich nur singen und dabei an Jesus und Maria denken.
    Heilige Maria, Mutter Gottes.
    Nach der achten Klasse will ich eine Friseurlehre machen. Ich kann schon sehr gut frisieren. Mit dem schwarzen Stift umrande ich meine Augen.
    »Anna, beeil dich, es ist schon spät.« Meine Mutter betritt das Bad.
    »Schon fertig. Ich gehe.« Ich verstecke den Lidschatten in der Schublade des Schrankes zwischen den sauberen Höschen und räume auf: Haarbürste, Shampoo, Handtücher.
    Im Haus herrscht Festtagsstimmung.
    »Ich will auch mitgehen, Mama, ich auch«, jammert meine Schwester und klammert sich an meinem Röckchen fest.
    Meine Mutter zieht sie weg.
    »Dazu bist du noch zu klein. Anna singt in der Kirche.«
    Ich fühle mich sehr erwachsen, während ich mich von meiner Mutter und meiner Schwester, die sich weinend und mit laufender Nase an einem ihrer Beine festhält, verabschiede.
    Ich gebe beiden einen Kuss. Verabschiede mich von meinem Vater, der am Tisch sitzen bleibt, den Kopf in beide Hände gestützt, und gebannt auf den Fernseher starrt.
    Während ich schnell zur Kirche laufe, bete ich zu Maria und wiederhole stumm mein Lied.
    Das Dorf
    Ein Pfiff. Jemand läuft pfeifend auf dem Bürgersteig unter Annas Fenster auf und ab.
    Er sagt kein Wort.
    Läuft nur auf und ab.
    Und pfeift dazu.
    So steckt er die Mauern ihres Gefängnisses ab.
    Anna bewegt sich langsam. Vor und zurück. Das Pfeifen füllt den leeren Raum zwischen ihnen aus.
    Die auf der einen Seite.
    Anna auf der anderen.

Die Osternacht
    A nna, komm raus, ich muss mit dir reden.«
    »Nein, Domenico. Ich will nicht reden.«
    »Es ist aber wichtig, Anna. Komm kurz mit raus. Wir treffen uns auf unserer Stufe.«
    »Domenico, ich habe keine Zeit, ich muss heute Abend singen.«
    Ich wehre mich. Zuerst mit den Augen, dann mit dem Körper und mit Worten. Domenico gibt nicht nach. Er hat sich hinter einer Säule im Hauptschiff der Kirche versteckt. Wenige Meter von mir und vom Chor entfernt. Er droht, dass er mich hinter dem Altar holen kommt. Ich schleiche mich vom Chor weg und gehe auf die Rückseite der Kirche, um zu hören, was er mir zu sagen hat.
    Die Messe beginnt.
    Sancta Maria, Mater Dei, ora pro nobis peccatoribus, nunc et in hora mortis nostrae …
    Als der Chor einsetzt, schleiche ich mich mit klopfendem Herzen hinaus.
    … mortis nostrae …
    Domenico sitzt auf unserer Stufe.
    »Was willst du?«, frage ich und bleibe vor ihm stehen.
    »Und du, was willst du? Etwa hier die Erwachsene spielen?« Er packt mich am Arm. Aber obwohl ich mir selbst dabei wehtue, reiße ich mich mit einem heftigen Stoß los und weiche zurück.
    »Komm, Annarella, setz dich neben mich. Wir haben uns doch gern, oder?«
    »Domenico, ich …«
    Er lächelt. Ist nett. Sagt nichts mehr. Sitzt nur dort und streckt mir eine Hand hin. Er versucht auch nicht mehr, mich anzufassen. Er bleibt auf Abstand und wartet. Ich denke nicht mehr an das, was da draußen passiert ist, an seine
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