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Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)

Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)

Titel: Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
Autoren: Anna Maria Scarfò
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Schutzprogramm an. Ich habe dir bereits erklärt, was das bedeutet. Ein neuer Wohnort, eine neue Identität, für die Anfangszeit finanzielle Unterstützung. Du gehst allein. Oder ihr geht alle gemeinsam. Der Polizeipräsident von Reggio hat auf Grundlage des neuen Stalking-Gesetzes sechs Verwarnungen ausgesprochen. Sie riskieren große Schwierigkeiten, wenn sie nur in deine Nähe kommen. Eure Anzeigen liegen dem Friedensrichter vor. Wir haben alles getan, was möglich war, aber es ist schon eine ernst zu nehmende Angelegenheit, wenn der Staat anbietet, euch alle weit weg von hier zu beschützen. Aber …«
    »Aber …«, schaltet sich jetzt mein Vater ein. Wir schauen alle zu ihm hinüber. »Aber Avvocatessa , wir gehen nicht von hier fort. Weil wir nicht wie pentiti , wie reumütige ehemalige Mafiosi dastehen wollen. Die pentiti laufen davon. Warum sollten wir davonlaufen? Meine Tochter hat angezeigt, was sie anzuzeigen hatte. Wir haben beschlossen, sie dabei zu unterstützen, und jetzt laufen wir davon? Nu mafiusu sugnu, bin ich denn ein Mafioso?«, sagt mein Vater ganz leise.
    Sobald er schweigt, ergreift meine Mutter das Wort.
    »Und dann könnten wir nie wieder hierher zurückkehren, wenn zum Beispiel einer unserer Verwandten stirbt, oder für eine Hochzeit, wir könnten nie wieder mit der Familie Kontakt haben«, seufzt meine Mutter, die elf Schwestern und über zwanzig Nichten und Neffen hat.
    »Ich möchte auch nicht woanders wohnen. Was sollen wir dort? Es sieht so aus, als würden wir davonlaufen, und dann würden wir denen den Sieg überlassen, nach allem, was sie Anna angetan haben. Die müssten eigentlich davonlaufen, nicht wir.« Sogar meine Schwester protestiert. Die Familie hat gesprochen. Sie steht zusammen.
    Die Avvocatessa widerspricht uns zwar nicht, aber sie schaut sehr ernst. Ich sage nichts.
    Alle warten nun darauf, was ich davon halte.
    Ich? Was will ich denn? Ich würde sofort von hier weggehen, ganz egal wohin. Ich würde fortgehen. Aber nur mit meiner Familie, nicht allein. Und wenn sie bleiben wollen, dann werde auch ich bleiben …
    »Hier haben wir unsere Arbeit, unsere Familie, unsere Wohnung, die Traditionen …«, beharrt mein Vater.
    »Wir sind einfache Leute, was wird wohl in einer großen Stadt aus uns werden?«, beklagt sich meine Mutter.
    Ich ergreife das Wort. » Avvocatessa, natürlich gibt es diese Anrufe, die Drohungen, den getöteten Hund und das Schweineblut auf der Wäsche. Aber selbst wenn wir uns immer zu Hause einschließen müssten, selbst wenn etwas … Schreckliches passieren sollte, wir lehnen das Schutzprogramm ab. Wir gehen von hier nicht fort.«
    Das Dorf
    Jetzt schweigen die Stimmen. Es gibt nur noch Blicke.
    Anna Maria steht unter Begleitschutz. Ein Wagen der Carabinieri mit zwei Mann Besatzung bleibt bis 20 Uhr vor dem Haus der Familie Scarfò. In der Nacht fährt jede Stunde ein Streifenwagen vor und hält für zehn Minuten. Anna, ihre Schwester, ihre Eltern, sie alle sind nicht mehr allein, wenn sie das Haus verlassen.
    Sie gehen nirgendwohin mehr zu Fuß. Sie gehen nicht mehr an belebte Orte.
    Die kleine Gemeinde San Martino zieht sich in sich selbst zurück. Die Fenster werden verdunkelt, die Türen verriegelt.
    Das Dorf schaut vorsichtig und verwundert auf das Mädchen mit der Polizeieskorte.

Die Polizeieskorte
    K ristallgläser im Laderaum eines Schiffes. So leben wir bei uns zu Hause. Wie Kristallgläser. Verschnürt und bebend. Eng nebeneinander. Wir sind jedem Schwanken der Wellen ausgesetzt.
    Die Avvocatessa hat bis zuletzt versucht, mich zu überreden, aber sie hat auch immer wieder gesagt, es wäre meine Entscheidung. Ich habe das Schutzprogramm abgelehnt. Der Kommandant der Carabinieristation von San Martino hat mir geholfen, eine Anzeige wegen Stalkings gegen meine Nachbarn zu stellen, die mir drohen, gegen jeden, der mich aus meinem Dorf vertreiben will. Und Rosalba hat mir erklärt, dass dies ein neues Gesetz zum Schutz von Frauen und ganz allgemein von jedem ist, der unter hartnäckigen Drohungen zu leiden hat. Ich bin der erste Fall in Italien, dem der Staat ein solches Schutzprogramm anbietet. Und da denke ich: Ich muss wirklich Angst haben.
    Ich setze mich aufs Bett und schreibe.
    Ich schreibe dem Staatspräsidenten, den Carabinieri, dem Richter am Gerichtshof von Palmi. Ich bitte darum, dass man mir und meiner Familie hilft, weil wir San Martino nicht verlassen wollen. Es ist unser Recht, in dem Dorf zu bleiben, in dem wir geboren
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