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Sommer der Entscheidung

Sommer der Entscheidung

Titel: Sommer der Entscheidung
Autoren: Emilie Richards
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Nancy war diejenige, die sich ablenken ließ, die stets vergeblich versuchte, irgendwo entspannt rechtzeitig anzukommen.Nancy wusste, dass sie oft genug alle, die sie liebte, mit ihrer Art enttäuschte. Entsprechend überging sie auch den zweiten Satz ihrer Tochter.
    „Sie macht nicht auf? Warum liegen denn ihre Sachen hier herum?“ Sie deutete auf den Rosenstrauch. „Und was ist mit dem ganzen Papier?“
    Tessa zuckte mit den Schultern.
    „Vielleicht ist sie krank.“ Nancy rannte die Stufen hoch so schnell sie konnte. Sie riss die Tür mit dem Fliegengitter auf und drehte die Klinke. Als nichts passierte, fing sie an, mit der Faust zu hämmern: „Mutter! Mutter!“
    „Ich glaube nicht, dass das etwas bringt.“
    Nancy hämmerte weiter. „Vielleicht ist ihr etwas passiert.“
    „Solange nichts mit ihren Ohren ist, bringt uns das gar nichts.“
    Abrupt hörte Nancy auf, die Tür zu bearbeiten. „Fällt dir vielleicht etwas Besseres ein, Tessa? Anscheinend hast du ja bisher nichts unternommen und hier nur herumgesessen. Wer weiß? Vielleicht liegt sie längst tot im Flur.“
    „Sie war ganz lebendig, als ich hier angekommen bin, sehr lebendig, als sie die Sachen aus dem Fenster geschmissen hat, und ebenfalls lebendig, als sie das Fenster zugeknallt und die Vorhänge geschlossen hat.“
    „Meinst du wirklich, sie will uns nicht hineinlassen?“
    „So viel ist klar.“
    Nancy trat einen Schritt zurück und starrte die Haustür an. Wie alles andere hier brauchte auch die eine neue Lackierung. Das Dach musste repariert werden; die Veranda benötigte neue Dielen; die Fenster mussten geputzt werden; das Fliegengitter in der Tür, die sich vor der eigentlichen Haustür befand, musste geflickt werden.
    Die hölzerne Haustür hatte einige Generationen von Stoneburners überlebt, und das konnte man ihr ansehen. Nancy warvor vielen Jahren durch diese Tür hinausgegangen und hatte nie zurückgeblickt. Jetzt klopfte sie noch einmal kräftig daran, nur so.
    „Ich glaube, sie wird schon irgendwann herunterkommen“, sagte Tessa. „Wenn sie uns lange genug bestraft hat.“
    „Bestraft?“
    „Dafür, dass wir darauf bestanden haben, dass sie so lebt, wie wir es für richtig halten.“
    „Ich nehme an, du glaubst, ich hätte nicht das Recht dazu.“ Nancy konnte spüren, wie sie ihre Schultern hängen ließ. Sie war sechzig, aber sie sah jünger aus. Viel jünger, wenn sie ausgeruht und einigermaßen zufrieden war. Im Moment traf nichts davon zu. Zwischen ihren Brüsten, die in einem Büstenhalter eingeklemmt waren, wie ihn auch die eiserne Jungfrau getragen hätte, bahnte sich der Schweiß seinen Weg. Nancy hätte sich gern die figurformende Fein-strumpfhose vom Körper gerissen und sich damit an einem Pfosten der Veranda aufgehängt. Seit einer Woche hatte sie keine Nacht mehr durchgeschlafen, aus Sorge, was ihr in diesen Tagen bevorstehen würde. Die Tränensäcke unter ihren Augen warfen ihren eigenen Schatten, und sie hatte das Gefühl, sie könnte das zweite Kinn förmlich spüren, das ihr gerade wuchs.
    Tessa seufzte nicht. Sie war ein ruhiger, dunkler See, und was immer unter der Oberfläche verborgen war, blieb unsichtbar. „Jetzt sind wir hier“, sagte Tessa. „Zum Umkehren ist es zu spät. Ich habe mir den Rest des Sommers freigehalten, genau wie du. Wir können eigentlich nur sitzen bleiben und erst einmal abwarten.“
    „Worauf sollen wir warten? Sie hat sich eingeschlossen wie in einem Gefängnis.“
    „Hast du keinen Schlüssel?“
    „Wozu brauche ich einen Schlüssel? Sie schließt die Türnie ab. Das habe ich ihr hundert Mal gesagt, dass sie die Tür abschließen soll …“
    „Nun gut, es sieht so aus, als habe sie dieses eine Mal auf dich gehört.“
    Nancy guckte ihre Tochter kurz an und sah den Schatten eines Lächelns um ihren Mund. Die beiden Frauen waren sich überhaupt nicht ähnlich. Tessa war groß und hatte schmale Hüften und kleine Brüste. Sie hatte leicht schräge grüne Augen und glatte braune Haare.
    Nancy war zwar schon älter, aber sie sah sich immer noch als Teenager und Cheerleader. Stämmig, blond und so forsch, wie man mit Arthritis und Bluthochdruck eben forsch sein konnte. Ihre Haare kräuselten sich je nach Wetterlage; sie bekam Hitzepusteln in der Sonne. Sie machte regelmäßig Sport, um die ewig drohenden Pfunde loszuwerden, und ließ ihr Haar von dem besten Friseur in Richmond bändigen. Sie trug ein teures Sonnenschutzmittel unter einer noch exklusiveren Tagescreme
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