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Sommer der Entscheidung

Sommer der Entscheidung

Titel: Sommer der Entscheidung
Autoren: Emilie Richards
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hatte Tessas Vater berichtet.
    Also wartete Tessa. Der Spaß würde schon noch früh genug anfangen, und Tessa war wenig erfreut über die Ironie der Angelegenheit. Sie stand zwischen zwei Frauen, die sie wirklich nicht noch besser kennenlernen wollte, und würde mit ihnen den restlichen Sommer verbringen müssen. Sie würde die Zeit damit zubringen, den beiden wie zwei tänzelnden Boxern im Ring zuzusehen, die pausenlos Täuschungsmanöver durchführten. Darüber hinaus würde sie den ganzen Juli und August damit beschäftigt sein, das Haus zu streichen und zu reparieren, sollte es drinnen genauso aussehen wie draußen.
    Aber war das wirklich wichtig? Was erwartete sie andererseits zu Hause in Fairfax? Wer wartete dort auf sie?
    Eine Staubwolke verkündete, dass es tatsächlich noch Leben auf der Fitch Crossing Road gab. Tessa wandte den Kopf, um die Wolke beim Näherkommen zu beobachten. Im Zentrum des Staubwirbels war eine schwarze Limousine, derneue Mercedes ihrer Mutter. Nun bedeckte ihn der Sand von Fitch Crossing. Der Wagen wurde langsamer, und die Wolke legte sich. Nancy fuhr immer noch zu schnell, als sie in die Auffahrt einbog. Knapp verfehlte sie den Graben auf der einen Seite, steuerte zu stark gegen, aber es gelang ihr, das Auto gerade noch rechtzeitig auszurichten, um nicht in den anderen Graben zu rasen, der die Auffahrt säumte.
    Tessa rührte sich nicht. Sie hatte das Gefühl, der restliche Sommer ginge in diesem Moment für sie zu Ende. Ihr Leben ginge zu Ende. Sie war nicht stark genug für das, was auf sie zukam. Sie würde nie wieder stark genug sein. Dennoch saß sie hier, die gehorsame Tochter, die besorgte Enkelin, die Friedensstifterin. Tessa MacRae, Highschool-Lehrerin für Englisch, Frau eines erfolgreichen Rechtsanwaltes, Überlebende. Die schwerste Zeit ihres Lebens hatte sie schon hinter sich, und sie erinnerte sich selbst daran, dass auch nichts passieren könnte, was das in den Schatten stellen würde.
    Sie versuchte sich mit diesen Gedanken zu trösten, aber es gelang ihr nicht. Sie wartete ab, bis die Wagentür ins Schloss fiel und ihre Mutter die Hälfte des zugewucherten Weges zurückgelegt hatte, bevor sie aufstand.
    Nancy Whitlocks Herz schlug immer schneller, wenn sie ihre Tochter sah. Dieses Phänomen hatte seinen Anfang bei Tessas Geburt im Kreißsaal genommen. Nach schmerzhaften, scheinbar ewig dauernden Wehen hatte Nancy so viele Schmerzmittel bekommen, dass ihr Herz eigentlich hätte stillstehen müssen. Aber ein erschöpfter Blick auf das verschrumpelte und verschmierte Baby, das sie aus sich herausgepresst hatte, reichte aus, um zu verstehen, dass alles, alles , was sie durchgemacht hatte, diesen einen Moment wert war.
    Über die Jahre hatte Nancy darauf gewartet, dass die Eintönigkeit des Mutterdaseins einsetzen würde. Ihre Freundeintegrierten ihre Kinder in das Alltagsleben. Sie sprachen über andere Dinge, freuten sich auf die Abende, die sie einmal wieder ausgehen konnten, machten regelmäßige Termine ab, um miteinander Tennis oder Golf zu spielen. Doch diese anderen Vergnügungen hatten für Nancy nie eine große Rolle gespielt.
    Als sie jetzt auf ihre Tochter zuging, bemerkte sie, wie blass Tessa war. Sie hatte abgenommen und wirkte angespannt. Ihre sonst aufrechte Haltung verriet, wie müde sie war. Tessa stand auffällig ruhig da, als halte sie alle ihre Instinkte völlig unter Kontrolle. Nie war sie nervös. Falls es sie juckte, gab sie dem Reiz nicht in der Öffentlichkeit nach. Sie war eine Marmor-Madonna, erschreckend schön und beherrscht. Zumindest war sie das in Nancys Augen einmal gewesen: eine Schönheit, ausgeglichen und voller Anmut. Jetzt allerdings sah sie erschöpft aus, gequält und älter als siebenunddreißig Jahre.
    „Ich wollte schon früher da sein.“ Nancy begann zu sprechen, bevor sie die Veranda erreicht hatte. Die Worte tropften langsam hervor und wurden dann zu einem Wasserfall. „Der Verkehr in Richmond war furchtbar. Dann musste ich noch tanken. Mittlerweile wäre ich fast verhungert. Ich hätte dir ein Sandwich mitgebracht, für alle Fälle, aber ich weiß ja, dass du so etwas nicht anrührst. Überhaupt isst du nicht genug. Du bist viel zu dünn! Warum bist du immer noch hier draußen? Oder bist du auch gerade erst angekommen?“
    „Gram macht die Tür nicht auf. Und nein, ich war pünktlich hier.“
    Der letzte Satz sollte keine Rüge sein. Tessa war nur sachlich.
    Tessa war pünktlich. Selbstverständlich war sie pünktlich.
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