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Solaris

Solaris

Titel: Solaris
Autoren: Stanislaw Lem
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aber nicht schreckhafte Naivität: wenn dieses Gebilde so hingegeben und schnell die neue, unvermutet angetroffene Form zu erkennen, zu erfassen suchte und auf halbem Wege zurückweichen mußte, sobald es die durch geheimnisvolles Gesetz festgelegten Grenzen zu überschreiten drohte. Welcher unaussprechliche Kontrast -zwischen dieser wendigen Neugier und dem Unmaß, das glanzerfüllt alle Horizonte erreichte! Noch nie hatte ich so seine riesenhafte Anwesenheit verspürt, sein starkes, unbedingtes Schweigen, das regelmäßig im Wellenschlag atmete. Vertieft, entgeistert, sank ich in unzugänglich erscheinende Bereiche der Unbeweglichkeit hinab, und in wachsender Intensität des Selbstvergessens verband ich mich mit diesem flüssigen, blinden Koloß, als hätte ich ihm ohne die mindeste Anstrengung, ohne Worte, ohne einen einzigen Gedanken alles verziehen.
    Die ganze letzte Woche hindurch verhielt ich mich so vernünftig, daß das mißtrauische Glitzern in Snauts Augen endlich aufhörte, mir nachzustellen. Nach außen hin war ich ruhig; insgeheim, und ohne mir dies deutlich klarzumachen, erwartete ich etwas. Was?
    Ihre Rückkehr? Wie konnte ich? Jeder von uns weiß, daß er ein materielles, den Gesetzen der Physiologie und der Physik unterworfenes Wesen ist, und daß die Kraft aller unserer Gefühle zusammengenommen gegen diese Gesetze nicht ankämpfen kann; sie kann sie nur hassen. Der ewige Glaube der Verliebten und der Dichter an die Macht der Liebe, die dauerhafter sei als der Tod, jenes »finis vitae sed non amoris«, das uns durch die Jahrhunderte verfolgt - das ist eine Lüge. Aber diese Lüge ist nur vergeblich, nicht lächerlich. Was sonst? Eine Uhr sein, die immer wieder zerschellend und von neuem zusammengesetzt den Zeitablauf mißt, und in deren Mechanismus, sobald der Konstrukteur das Räderwerk anstößt, mit der ersten Bewegung zugleich Verzweiflung und Liebe abzulaufen beginnen, mit dem Wissen, ein Repetierwerk zu sein für die Qual, die sich um so mehr vertieft, je komischer sie wird durch die Vielzahl der Wiederholungen? Das menschliche Dasein wiederholen, gut; aber so wiederholen, wie ein Säufer eine abgedroschene Melodie wiederholt, indem er immer neue Kupfermünzen in die Musikbox einwirft? Keinen Augenblick lang glaubte ich, daß diesen flüssigen Koloß, der vielen Hunderten Menschen in sich den Tod bereitet hatte und mit dem meine ganze Rasse seit Jahrzehnten vergeblich auch nur ein Fädchen der Verständigung anzuknüpfen suchte, ihn, der mich wie einen Staubsplitter unwissentlich mit sich forttrug - die Tragödie zweier Menschen rühren könnte. Aber sein Handeln richtete sich auf irgendein Ziel. Freilich, nicht einmal dessen war ich ganz sicher. Aber fortzugehen, das hieße, diese vielleicht winzige, vielleicht nur in der Vorstellung existierende Chance auszutilgen, die in der Zukunft verborgen war. Dann also Jahre zwischen Gerätschaften und Dingen, die wir gemeinsam berührt hatten, Jahre in der Luft, worin noch die Erinnerung an ihren Atem war? Um welcher Sache willen? Um der Hoffnung auf ihre Rückkehr willen? Hoffnung hatte ich nicht. Aber in mir lebte das letzte, was mir davon noch verblieben war: die Erwartung. Auf welche Erfüllungen, welchen Spott, welche Qualen war ich noch gefaßt? Ich wußte nichts, und so verharrte ich im unerschütterlichen Glauben, die Zeit der grausamen Wunder sei noch nicht um.
    Zakopane, Juni 1959 - Juni 1960
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