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Solange am Himmel Sterne stehen

Solange am Himmel Sterne stehen

Titel: Solange am Himmel Sterne stehen
Autoren: Kristin Harmel
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mit den traurigen Augen räusperte sich. »Nein, Mamie, ich bin Hope«, sagte sie. »Josephine ist nicht hier.«
    »Ja, natürlich, das weiß ich«, beeilte sich Rose zu sagen. »Ich muss mich versprochen haben.« Sie durfte niemanden wissen lassen, dass sie dabei war, ihr Gedächtnis zu verlieren. Es war beschämend. Als wäre es ihr nicht wichtig genug, um daran festzuhalten, und das war ihr peinlich, denn nichts könnte der Wahrheit ferner liegen. Wenn sie sich noch ein bisschen länger verstellte, dann würden die Wolken vielleicht verschwinden, und ihre Erinnerungen würden zurückkehren von dort, wo sie sich versteckt hielten.
    »Schon gut, Mamie«, sagte das Mädchen, das viel zu alt aussah, um Hope zu sein, ihre einzige Enkelin, ein Kind, das nicht älter als dreizehn oder vierzehn sein konnte. Und doch konnte Rose die Sorgenfalten sehen, die sich um die Augen dieses Mädchens eingegraben hatten, bei Weitem zu viele Falten für ein Mädchen dieses Alters. Sie fragte sich, was so schwer auf ihr lastete. Vielleicht würde Hopes Mutter wissen, was los war. Und dann würde Rose ihr vielleicht helfen können. Sie wollte Hope helfen. Sie wusste nur nicht, wie.
    »Wo ist deine Mutter?«, fragte Rose Hope höflich. »Kommt sie auch, Liebes?«
    Es gab so vieles, was Rose Josephine sagen wollte, so vieles, wofür sie sich entschuldigen wollte. Und sie befürchtete, dass ihr die Zeit davonlief. Wo sollte sie anfangen? Sollte sie sich zuerst für ihre vielen Fehler entschuldigen? Für ihre Kälte? Dafür, dass sie ihr all die falschen Lektionen erteilt hatte, ohne es zu wollen? Rose wusste, dass sie in der Vergangenheit oft die Gelegenheit gehabt hatte zu sagen, dass es ihr leid tat. Aber die Worte waren ihr jedes Mal in der Kehle stecken geblieben. Vielleicht war es an der Zeit, sich zu zwingen, sie laut auszusprechen, sie Josephine hören zu lassen, bevor es zu spät war.
    »Mamie?«, sagte Hope zögernd. Rose lächelte sie sanft an. Sie wusste, dass Hope eines Tages zu einer starken, freundlichen Person heranwachsen würde. Josephine war auch diese Art Frau, aber ihr Charakter lag unter so vielen Schutzschichten verborgen, herbeigeführt durch Roses Fehler, dass es schwer zu erkennen war.
    »Ja, Liebes?«, fragte Rose, denn Hope hatte aufgehört zu sprechen. Auf einmal hatte Rose eine leise Ahnung, dass sie genau wusste, was Hope zu sagen im Begriff war. Sie wünschte, sie könnte sie aufhalten, bevor die Worte ihren Schaden anrichteten. Aber es war zu spät. Es war immer zu spät.
    »Meine Mom – Josephine – ist tot«, sagte Hope sanft. »Seit zwei Jahren, Mamie. Erinnerst du dich denn nicht?«
    »Meine Tochter?«, fragte Rose. Trauer brach über sie herein wie eine Welle. »Meine Josephine?« Die Wahrheit kam mit der Flut herangerollt, und für einen Moment bekam Rose keine Luft mehr. Sie staunte über diese Tricks des Verstandes, der die unglücklichen Erinnerungen einfach fortspülte und aufs Meer hinaustrug.
    Aber manche Erinnerungen, das wusste Rose, konnten nicht ausgelöscht werden, selbst wenn man sein Leben lang versuchte, so zu tun, als wären sie nicht da.
    »Es tut mir leid, Mamie«, sagte Hope. »Hattest du es vergessen?«
    »Nein, nein«, beeilte sich Rose zu sagen. »Natürlich nicht.« Hope wandte den Blick ab, und Rose starrte sie an. Für einen Moment erinnerte das Mädchen sie an irgendetwas oder an irgendjemanden, aber bevor sie den Gedanken festhalten konnte, flatterte er davon, außer Reichweite, wie ein Schmetterling. »Wie könnte ich so etwas vergessen?«, fügte Rose leise hinzu.
    Sie saßen eine Zeit lang schweigend da und sahen aus dem Fenster. Der Abendstern war jetzt aufgegangen, und bald darauf konnte Rose die Sterne des Großen Wagens sehen, der, wie ihr Vater einmal zu ihr gesagt hatte, der Stielkochtopf Gottes war. Wie ihr Vater es ihr einst beigebracht hatte, folgte Rose jetzt der Verbindungslinie zwischen dem Stern Merak und dem Stern Dubhe und fand Polaris, den Nordstern, der an dem unendlichen Himmel eben sein schläfriges Auge für sie zu öffnen begann. Sie kannte so viele Sterne beim Namen, und denen, die sie nicht kannte, hatte sie selbst Namen gegeben, nach Menschen, die sie vor langer Zeit verloren hatte.
    Wie seltsam, dachte sie, dass sie an den schlichtesten Fakten nicht festhalten konnte, die himmlischen Namen hingegen für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt waren. Sie hatte sie insgeheim so viele Jahre studiert, in der Hoffnung, eines Tages könnten sie ihr
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