Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Solange am Himmel Sterne stehen

Solange am Himmel Sterne stehen

Titel: Solange am Himmel Sterne stehen
Autoren: Kristin Harmel
Vom Netzwerk:
das sich tatsächlich beheben lässt.
    Am nächsten Abend, als Annie wieder bei Rob ist und ich nach der Arbeit das restliche Chaos in der Küche beseitige, muss ich an Mamie denken. Sie wusste immer, wie man Katastrophen in den Griff bekam. Mir wird bewusst, dass es zwei Wochen her ist, seit ich sie zuletzt besucht habe. Ich sollte eine bessere Enkelin sein , denke ich mit einem Anflug von schlechtem Gewissen. Ich sollte ein besserer Mensch sein . Noch ein Gebiet, auf dem ich offenbar ständig versage.
    Mit einem Kloß im Hals höre ich auf zu wischen, trage vor dem Dielenspiegel etwas Lippenstift auf und schnappe mir meine Schlüssel. Annie hat recht; ich muss meine Großmutter besuchen. Wenn ich zu Mamie fahre, ist mir immer nach Weinen zumute, denn auch wenn das Heim, in dem sie lebt, fröhlich und freundlich wirkt, ist es schrecklich, mit anzusehen, wie sie abbaut. Es ist, als würde man an Deck eines Schiffes stehen und zusehen, wie die Wellen jemanden verschlingen, und wissen, dass es keinen Rettungsring gibt, den man ihm zuwerfen kann.
    Eine Viertelstunde später gehe ich durch die Eingangstür von Mamies betreuter Wohnanlage, einem riesigen, buttergelb gestrichenen Haus voller Bilder von Blumen und Tieren. Die oberste Etage ist die Demenzstation, wo Besucher am Eingang einen Zugangscode auf einem Digitalpad eingeben müssen.
    Ich gehe den Korridor hinunter zu Mamies Zimmer am anderen Ende des Westflügels. Die Zimmer sind alle privat, im Apartment-Stil, auch wenn die Bewohner sämtliche Mahlzeiten im Speisesaal einnehmen und die Mitarbeiter alle einen Generalschlüssel haben, um nach den Bewohnern zu sehen und ihnen täglich ihre Medikamente zu geben. Mamie nimmt ein Antidepressivum, zwei Herzmittel und ein experimentelles Medikament gegen Alzheimer, das offenbar nichts hilft. Ich treffe mich einmal im Monat mit dem Stationsarzt, um den aktuellen Stand zu erfahren. Bei unserem letzten Treffen sagte er, ihre geistigen Fähigkeiten hätten in den letzten Monaten stark nachgelassen.
    »Das Schlimmste dabei ist«, sagte er, wobei er mich über seine Brille hinweg ansah, »dass sie klar genug im Kopf ist, um es zu begreifen. Das ist eine der härtesten Phasen für Außenstehende. Sie weiß, dass ihr Gedächtnis bald nahezu verschwunden sein wird, was für Patienten in diesem Zustand äußerst beunruhigend und traurig ist.«
    Ich schlucke einen Kloß im Hals hinunter, als ich auf die Klingel neben ihrem Namensschild drücke: Rose McKenna . Ich kann sie dahinter herumschlurfen hören; vermutlich stemmt sie sich mühsam aus ihrem Sessel hoch, bewegt sich mit dem Gehstock zur Tür, den sie benutzt, seit sie vor zwei Jahren gestürzt ist und sich die Hüfte gebrochen hat.
    Die Tür geht auf, und ich widerstehe dem Drang, mich in ihre Arme zu werfen, wie ich es früher getan habe, als ich ein kleines Mädchen war. Bis zu diesem Augenblick hatte ich gedacht, ich würde ihr zuliebe hierherkommen – aber jetzt wird mir klar, dass ich es für mich selbst tue. Ich brauche das. Ich muss jemanden sehen, der mich liebt, selbst wenn es eine unvollkommene Liebe ist.
    »Hallo«, sagt Mamie und lächelt mich an. Ihre Haare sehen weißer aus als bei meinem letzten Besuch, die Furchen in ihrem Gesicht tiefer. Aber sie trägt wie immer ihren burgunderroten Lippenstift, und ihre Augen sind mit Kajal und Wimperntusche umrandet. »Was für eine Überraschung, Liebes.«
    Ihre Worte sind mit dem Anflug eines französischen Akzents eingefärbt, der nahezu verschwunden ist. Sie lebt seit den frühen Vierzigerjahren in den Vereinigten Staaten, aber die Spuren ihrer längst verflossenen Vergangenheit umhüllen ihre Worte noch immer wie einer der federleichten französischen Schals, die sie fast immer um den Hals geschlungen trägt.
    Ich strecke die Arme nach ihr aus. Als ich jünger war, war sie kräftig und stark. Als sie sich jetzt zu unserer Umarmung vorbeugt, kann ich die Knochen ihres Rückgrats spüren, die scharfen Konturen ihrer Schultern.
    »Hi, Mamie«, sage ich leise. Ich blinzele Tränen weg, während ich mich von ihr löse.
    Sie starrt mich aus grauen Augen an, über denen ein trüber Schleier liegt. »Sie werden mir verzeihen müssen«, sagt sie. »Manchmal werde ich ein bisschen vergesslich. Welches der Mädchen sind Sie, Liebes? Ich weiß, ich sollte mich erinnern.«
    Ich schlucke schwer. »Ich bin Hope, Mamie. Deine Enkelin.«
    »Natürlich.« Sie lächelt mich an, aber ihre grauen Augen bleiben verschleiert. »Ich wusste
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher