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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa!
Autoren: Jochen Bittner
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einfallen.
     Bis es so weit ist, tröstet man sich mit Rindercarpaccio und Lachsschnittchen. Brüssel mag ein Wartesaal der Geschichte sein
     – aber einer mit exzellentem Catering.
     
    Dabei gäbe es einiges, was längst tiefes Nachdenken auslösen sollte. Warum, zum Beispiel, Brüssel sich immer noch wie die
     Heimstatt einer gewaltigen NGO anfühlt. Warum die Gipfel seiner Regierungschefs oft wie die Treffen einer Selbstfindungsgruppe
     wirken. Warum dieser unglaublich durchorganisierte Club 40   Milliarden Euro pro Jahr für seine Milchkühe, Olivenbäume und Schafherden ausgibt, während China in Universitäten, Containerhäfen
     und I T-Initiativen investiert. Oder welche Zukunftschancen ein zunehmend entindustrialisierter Kontinent haben kann. Wie soll Europa eigentlich
     in einer Welt bestehen, in der ihm immer weniger Anteil an der Güter- und Rohstoffproduktion bleibt?
    Vor fünfzig Jahren machten Dienstleistungen 36   Prozent des deutschen Bruttosozialproduktes aus. Heute sind es rund 70   Prozent. Laut einer Studie der Unternehmungsberatung McKinsey liegt die Produktivität der 15 alten E U-Staaten nur bei 87   Prozent derjenigen der Vereinigten Staaten. Eine Prognose der E U-Kom mission kommt zu dem Ergebnis, dass die Bevölkerung der 27   E U-Staaten von derzeit 495   Millionen auf 520   Millionen im Jahr 2035 anwachsen wird, um 2060 auf 505   Millionen abzusacken. Im selben Zeitraum wird das Durchschnittsalter der Europäer von 40 auf 48   Jahre steigen. Der Anteil der über 6 5-Jährigen an der Arbeitsbevölkerung wird von 25   Prozent auf 53   Prozent anwachsen. Eine Minderheit von Erwerbstätigen wird dann für eine Mehrheit von Rentnern arbeiten müssen.
    Statt darüber nachzudenken, wie dieses unvorstellbare Szenario abzuwenden ist, ergeht sich die EU vor allem in endlosen Debatten
     über Klimaschutz. Die Überbetonung dieser absolut offenkundigen Herausforderung ist ein Zeichen von Hilflosigkeit. So dramatisch
     der Klimawandel auch sein mag, er ist mittlerweile eine politische Plattitüde. Über kaum ein anderes Ziel lässt sich so leicht
     ein prinzipieller Konsens herstellen wie darüber, dass weder der Eisbär noch die Erde untergehen dürfen. Dass die EU ausgerechnet
     in dieser Plattheit ihre größte Einigkeit findet, spricht nicht für die Belastbarkeit ihrer Gemeinschaftspolitik.
    Andere Großprojekte werden mit deutlich weniger Nachhaltigkeit betrieben. Im Jahr 2000 beschlossen die 27   Regierungschefs, Europa zum »wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt« aufsteigen zu lassen. Fünf Jahre
     später mussten sie eingestehen, dass jenes »Lissabon-Programm« praktisch eingeschlafen war. Angesichts solcher ernüchternden
     Leistungsbilanzen auf harten Politikfeldern stellt sich die Frage: Falls es Europa gelingen sollte, den Weltuntergang zu verhindern
     – was macht es eigentlich danach?
     
    Europas Lieblingsinstrument ist die Lupe, wo es ein Fernglas sein müsste, und sein Identitätsproblem erwächst aus der Tatsache,
     dass es längst nicht mehr durch eine große Idee von oben zusammengehalten wird. Sondern durch tausend kleine Interessen von
     unten. Die regelmäßig erscheinende Studie ›Global Trends‹, gemeinsam herausgegeben von allen U S-Nachrichtendiensten , sagte der Europäischen Union im Herbst 2008 ein trauriges Schicksalvoraus: »Wir glauben, dass Europa bis 2025 bei der Umsetzung der Visionen seiner derzeitigen Führer und Eliten geringen Fortschritt
     gemacht haben wird, nämlich als geschlossener, integrierter und einflussreicher globaler Akteur aufzutreten, der unabhängig
     in der Lage wäre, ein komplettes Spektrum politischer, wirtschaftlicher und militärischer Instrumente zur Förderung europäischer
     und westlicher Interessen und universeller Werte einzusetzen. (…) Das fortgesetzte Versagen, die skeptischen Öffentlichkeiten
     von den Vorzügen tieferer wirtschaftlicher, politischer und sozialer Integration zu überzeugen und die brennende Herausforderung
     einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung durch schmerzhafte Reformen anzugehen, könnte die EU zu einem gefesselten Riesen
     werden lassen, der mit internem Gezänk und konkurrierenden nationalen Agenden beschäftigt ist – und kaum in der Lage, seine
     wirtschaftliche Schlagkraft in globalen Einfluss zu verwandeln.« Offenbar braucht es amerikanische Schlapphüte, um die Europäische
     Union auf ihren zweiten großen Fehler hinzuweisen. Dass sie das Harte
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