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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa!
Autoren: Jochen Bittner
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Nirgendwo eine so gute und
     (fast) kostenlose medizinische Versorgung. Manch ein Amerikaner beneidet uns darum. Etwa der E U-Romantiker Jeremy Rifkin, der schreibt: »Der europäische Traum ist so attraktiv, weil er es wagt, eine neue Geschichte vorzuschlagen,
     die sich auf Lebensqualität, Nachhaltigkeit, Frieden und Harmonie konzentriert.«
    Ja, und ist dieses europäische Gesellschaftsmodell nicht auchfabelhaft? Hat sich der Konsens auf unserem Kontinent, wonach der Staat die Pflicht hat, die Bürger vor den Unbilden des Lebens
     und entfesselter Marktkräfte zu schützen, nicht als weise erwiesen? Europa hat die Weltwirtschaftskrise von allen Kontinenten
     am besten abgefedert. Weil sich seine Politik zuerst dem Menschen verpflichtet fühlt und nicht der schieren Profitsteigerung,
     trafen die Spekulationsexzesse der Wall-Street-Makler ab Ende 2007 die deutschen, französischen oder skandinavischen Arbeitslandschaften
     wesentlich weniger ungeschützt als Amerika.
    Doch für einen »Staaten
block
«, wie die amerikanische Presse die EU immer noch respektvoll nennt, produziert sie in ihrer Regulierungswut bedenklich viel
     der Kleinlichkeit. Die Treusorge um die Bürger mag auf den allerbesten Absichten beruhen. Aber sie führt nicht nur dazu, dass
     die eigentlich wertvolle Suprainstanz Europa im täglichen Betrieb zu viel ihrer politischen Energie auf Details verschwendet.
     Ein solcher Beschützerinstinkt lähmt auch die Demokratie.
    Die EU regelt das Kleine zu groß und das Große zu klein. Politiker hören auf, Politiker zu sein, wenn sie nach Brüssel gesandt
     werden. Sie entwickeln sich zu Managern des Gleichklangs, zu, wenn man so möchte, Systemadministratoren der Benutzeroberfläche
     Europa. Sie beschäftigen sich damit, die Länge der europäischen Babypausen zu harmonisieren. Sie initiieren eine Kampagne
     gegen »Stress am Arbeitsplatz«. Sie verbieten den Verkauf von Kautabak. Sie bewilligen Millionen Euro für ein Programm, um
     Schulen mit Obst zu versorgen. Sie verhandeln über ein Abkommen zur Verletzungsverhütung durch Nadelspitzen in Krankenhäusern.
     Diese Behördenhaftigkeit ist ein Grund, warum Brüssel auf politisches Spitzenpersonal nur geringe Anziehungskraft ausübt.
     Gibt es, fragen sich bisweilen selbst altgediente Brüsselaner, keine dringenderen Aufgaben für die Exekutive Europas? Doch,
     natürlich gäbe es die. Aber eine Tragik der Europäischen Union lautet, dass sie ein Opfer ihres eigenen Erfolges geworden
     ist. Und damit ein bisschen faul. Ihre Gründungszwecke, Frieden, Wohlstand und Freiheit, sind unstreitig erreicht. Dies stellt,
     keine Frage, eine einzigartige historische Errungenschaft dar. Wie aber lässt sich ein derart konsolidiertes Projekt noch
     steigern?
     
    Am Abend, wenn die Lichter in den Bürogebäuden rund um die Place Schuman langsam verlöschen, beginnt Brüssel zu kuscheln.Auf den unzähligen Empfängen in lüstergeschmückten Stadthäusern oder Art-déco-Restaurants besinnt sich die Brüsseler Community
     darauf, an welch bedeutendem Menschheitsprojekt ein jeder hier jeden Tag arbeitet. Im Bauch von Brüssel braucht es nur ein
     paar raffinierte Häppchen, um das wärmende Wir-Gefühl einer
Soft Power
auszulösen. Anlässe zu Festlichkeiten gibt es zuhauf. Alles, was in Europa gärt, köchelt oder reift, hat – bei lockerer Betrachtung
     – etwas mit der Europäischen Union zu tun.
    Die Bayerische Landesvertretung lädt zur »Wurstverkostung« ein, die hessischen Kollegen zum Weinfest oder die Nordrhein-Westfalen-Residenz
     zum Karneval – mit original Kölsch versteht sich. »Frieden!«, ruft Ministerpräsident Kurt Beck ins Mikrofon. Er ist zu Besuch
     in seine rheinland-pfälzische Landesvertretung gekommen und muss europäisch klingen. Doch im überfüllten Saal der stuckverzierten
     Stadtvilla sind nur Bruchstücke seiner Rede zu verstehen. »Wohlstand!«, ruft er. »Grenzenlosigkeit! Wir! Alle! Nachbarn in
     Europa!« Die Besucher, bereits versorgt mit Champagnerkelchen, wenden die Köpfe ab. Wenn Politiker die Karlspreis-Vokabeln
     entsichern, weiß das Publikum, es kann nicht mehr lange dauern, bis das Buffet eröffnet wird. Die Beschwörung der EU als Kriegsverhinderungsbündnis
     taugt bloß noch als Brüsseler Tischgebet. »Die Top-Plattitüde hier«, sagt ein Kollege und neigt das Glas, »heißt übrigens:
     Europa der Ergebnisse.« Keiner glaubt mehr so recht daran, aber etwas Besseres, nach vorn Weisendes will auch niemandem
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