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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa!
Autoren: Jochen Bittner
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Akzeptanzverlust. Als »verselbständigte Macht der Exekutivgewalt« hat Karl Marx 1852 den Bonapartismus unter
     Napoleon III. gegeißelt. Es ist an der Zeit, einem ähnlichen Automatismus im heutigen Europa vorzubeugen.
    Wenn sich die EU streitet, dann stellt dies, so empfinden es viele ihrer Hauptdarsteller, die EU selbst infrage. Eine ranghohe
     deutsche Politikerin sagte mir vor der Griechenlandkrise, sie zweifle daran, ob die Europäer wirklich Kontroversen wollten,
     ob sie tatsächlich auf polarisierende Meinungen aus seien. In ihren Kreisen glaube man, es müsse doch eher darum gehen, Europamit einer einheitlichen Stimme sprechen zu lassen. Das stimmt für das Ergebnis, aber nicht für den Weg dorthin. Der Feind
     des Guten ist nun mal das Bessere, und wenn dies Streit erzeugt, muss er niemanden bange machen. Es ist nicht nur legitim,
     die eigene Nation als Bezugspunkt für Identität und Interesse zu wählen, die EU kann gar nicht anders funktionieren. Denn
     mit was sonst als mit den Vorteilen, die sie für jedes Mitgliedsland birgt, sollte sie sich rechtfertigten lassen?
    Nehmen wir die Wirtschaftskrise als ein gutes Beispiel. Der Streit um die Frage, ob Deutschlands Steuerzahler den griechischen
     Staatshaushalt stützen sollen, mag im Frühjahr 2010 bis an die emotionale Schmerzgrenze geführt worden sein. Aber hat nicht
     genau dieser Zoff dazu geführt, dass sich die Europäer wie nie zuvor über die Funktionsweise des Euro-Raums und über die Defizite
     in der Währungsarchitektur Gedanken gemacht haben? Und haben im Laufe der Auseinandersetzung nicht viele den Wert der Gemeinschaftswährung
     ebenso zu schätzen gelernt wie die Notwendigkeit einer stärkeren Koordination der Wirtschaftspolitiken? An der Empörung über
     griechischen Beamtenluxus entzündete sich urplötzlich sogar die Frage, ob in Europa nicht vergleichbare Lebensarbeitszeiten,
     Rentenniveaus und Sozialleistungen gelten müssten. Wenige Wochen zuvor hätten die Menschen solche Gedanken noch als spinnerte
     Ideen von regulierungswütigen Brüsseler Eliten abgetan. »Fail. Fail again. Fail better«, hat Samuel Beckett einmal als allgemeines
     Rezept für Verbesserungen aufgestellt. Das funktioniert aber nur, wenn man sich ein Scheitern überhaupt eingestehen kann.
    Man stelle sich einmal vor, dass die Europäer regelmäßig mitbekommen dürften, wie und was während der Ratstreffen der E U-Regierungschefs so geredet und gezankt wird. Europapolitik könne ein Quotenhit sein. Solange sich am Ende der Klügste durchsetzt, ist Vielstimmigkeit
     nicht nur kein Problem. Sie kann vielmehr Ausdruck sein für eine Schwarmintelligenz, für die dieser Kontinent geeignet ist
     wie kein anderer. Die Fehlerwahrscheinlichkeit eines Kollegiums ist schließlich deutlich geringer als die eines Alleinherrschers
     – vorausgesetzt, seine Mitglieder trauen sich auch wirklich, ihre Meinung zu sagen.
    »Friede, Verbundenheit und Zusammenarbeit sind nur denkbar zwischen Völkern, die wissen, wer sie sind«, schrieb der ehemalige
     Bürgerrechtler und tschechische Präsident Václav Havel. »Wennich nicht weiß, wer ich bin, wer ich sein will, was ich erreichen will, wo ich anfange und wo ich ende, dann sind die Beziehungen
     zu den Menschen in meiner Umgebung und zur übrigen Welt gespannt, voller Argwohn und mit einem Minderwertigkeitskomplex belastet,
     der sich vielleicht hinter aufgeblasener Selbstsicherheit versteckt.« 117 Kürzer gesagt: Ohne selbstbewusste Nationen ist kein Internationalismus denkbar.
    Die fortschrittlichsten Nationen Europas wirken schon heute auf andere wie Lokomotiven, und zwar ganz unabhängig von der Brüsseler
     Steuerung. Das Rauchverbot ist dafür nur ein Beleg. Eine Schülerin aus Dublin zum Beispiel muss heute noch nach Liverpool
     reisen, wenn sie eine Abtreibung vornehmen lassen will. Ein schwules Pärchen aus Bukarest muss nach Kopenhagen fliegen, um
     zu heiraten. Wie lange wird es wohl dauern, bis sich die restriktiven Regierungen dem Druck der modernen Nachbarschaft beugen?
     Oder einfach von einer
Best Practice
lernen: Nach der Veröffentlichung der PIS A-Studie reisten Bildungsexperten aus ganz Europa nach Finnland, um zu schauen, was von dem dortigen Erfolgsmodell sich auf ihre Länder
     übertragen ließe. Was würde wohl geschehen, wenn stattdessen – was zum Glück nicht der Fall ist – Brüsseler Zentralisten Bildungspolitik
     gestalten würden? »Wir sind mitnichten auf dem Weg in ein goldenes Zeitalter,
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