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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa!
Autoren: Jochen Bittner
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klassische, romanische, gotische, barocke und moderne Bauwerke
     abgebildet.)
    »Wenn man heute ruhig überlegend sich fragt, warum Europa 1914 in den Krieg ging, findet man keinen einzigen Grund vernünftiger
     Art und nicht einmal einen Anlass«, schrieb Stefan Zweig. 112 »Und das schlimmste war, dass gerade jenes Gefühl uns betrog, das wir am meisten liebten: unser gemeinsamer Optimimus.« Aus
     den Schützengräben von Verdun und Ypern sind zahlreiche Verbrüderungsszenen zwischen deutschen, belgischen, französischen
     und britischen Soldaten verbürgt. An der Front bei Diksmuiden feierten belgische und deutsche Truppen am 24.   Dezember 1914 gemeinsam Weihnachten und sangen sich Lieder aus dem vertrauten europäischen Musikgut vor.
    Genau betrachtet war nicht einmal der Binnenmarkt eine Brüsseler Erfindung. Die Hanse, ein Zusammenschluss von Kaufleuten,
     betrieb schon während des Mittelalters in weiten Teilen Nordeuropas eine Befriedung der Handelswege. Der Bund umfasste in
     seiner Hoch-Zeit im 13.   Jahrhundert 300   See- und Binnenstädte von Flandern bis zum Finnischen Meerbusen, in denen seine Abgesandten gemeinsame wirtschaftliche Interessen
     vertraten und für eine kommerzielle Revolution sorgten. »Die Europäische Gemeinschaft legte nicht das Fundament für wirtschaftliche
     Integration, sondern war selbst institutionalisierter Ausdruck einer Entwicklung, die schon längst eingesetzt hatte«, bringt
     Tony Judt in seiner ›Geschichte Europas‹ Ursache und Wirkung auf den Punkt. 113
    Es ist deswegen wichtig, daran zu erinnern, dass es nicht die EU war, die den Europagedanken in die Welt gesetzt hat, weil
     diese Tatsache ihren Finalitätsdebatten etwas von dem zerknirschten Grundton nehmen kann. Die Brüsseler Union lebt, um das
     berühmte Wort des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde zu entlehnen, von Voraussetzungen, die sie selbst nicht
     schaffen kann. Als politische Harmonisierungsanstalt kann sie sich deshalb getrost weniger wichtig nehmen.
     
    Vernünftige Ideen setzen sich in Europa auch ganz ohne die EU durch. Entgegen einer weit verbreiteten Annahme hatte Brüssel
     zum Beispiel mit dem Rauchverbot in Gaststätten und öffentlichen Räumen rein gar nichts zu tun. Es breitete sich einfach als
     Trend über die Ländergrenzen hinweg aus, und zwar von Staat zu Staat, von Bundesland zu Bundesland in unterschiedlicher Ausgestaltung.
     Diese »virale« Standardsetzung ist ein Beispiel dafür, was Altertumswissenschaftler womöglich »Selbstromanisierung« nennen
     würden. Bestimmte Regelungen triumphieren, weil sie ganz einfach die bestmöglichen Regelungen sind. In den meisten großen
     Städten des römischen Reiches gab es einen zentralen Platz, das Forum, Gerichts- und Marktsäle, die Basilicae, und ein Amphitheater,
     die Arena. Selbstredend, dass mit diesen Grundlagen ebenso andere Aspekte der römischen Lebensart Verbreitung fanden. »Unsere
     Tracht [kam] in Ansehen, und häufig trug man die Toga. Allmählich verfiel man auf die Reize der Laster: auf Säulenhallen und
     Bäder und üppige Gelage«, berichtet der Schriftsteller Tacitus von einem Aufenthalt in Britannien. Reisende Reichsbewohner
     konnten sich hier wie dort wie »zu Hause« fühlen – Habitushomogenität nennen Historiker diesen Effekt. 114 Er ist heute, gerade weil die EU dafür die Grundlagen geschaffen hat, mächtiger als je zuvor. Wenn bei diesem Prozess nicht
     alle E U-Mitglieder in der gleichen Geschwindigkeit vorankommen, was soll’s?
    Noch etwas spricht für mehr Gelassenheit gegenüber der Zukunft. Es mag auf den ersten Blick als zynischer Gedanke erscheinen,
     aber könnte Europa nicht gerade wegen seiner kriegerischen Vergangenheit heute ruhigeren Herzens sein? Der amerikanische Historiker
     Jerry Muller legte diese provokante These im Frühjahr 2008 in einem Essay in der Zeitschrift ›Foreign Affairs‹ dar. In der
     EU, so Muller, herrsche nicht etwa trotz, sondern wegen der konsolidierten Nationen seit 60   Jahren Frieden. All die Territorialschlachten, Vernichtungskriege und ethnischen Säuberungen der Vergangenheit hätten dafür
     gesorgt, dass die Völkergrenzen des derzeitigen Europas im Großen und Ganzen mit seinen Staatsgrenzen übereinstimmten. Gründe,
     gegeneinander zu kämpfen, seien damit weggefallen. Dieser Gedanke hat deswegen etwas Unappetitliches, weil er krankhaften
     Nationalismus als quasi natürliche Gewalt begreift. Das ist er natürlich nicht, und keine
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