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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa!
Autoren: Jochen Bittner
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geografische Klarheit ist sechzig
     Millionen Tote wert.
    Diese Einwände aber machen die föderalistische Gegenpositionzu Muller nicht plausibler. Sie wird beispielhaft formuliert vom ehemaligen belgischen Ministerpräsident Guy Verhofstadt.
     Seine These lautet, dass der einzige Weg, ein kosmopolitisches Europa zu schaffen und ein Jahrhundert der »monokulturellen
     Inseln« zu beenden, die Errichtung der »Vereinigten Staaten von Europa« sei, am besten noch ausgestattet mit einer gemeinschaftlichen
     »See le «. 115 Solche Predigten sind letztlich nichts anderes ist als eine Kopie der alten und verhängnisvollen romantischen Methode, ein
     Gemeinschaftsgefühl herbeizudichten – einen Euronationalismus eben. Auf solche Abziehbilder, wie sie in anderer Form auch
     Jürgen Habermas als Gegenentwurf zu den Vereinigten Staaten von Amerika herbeisehnt, kann Europa verzichten. Entwürfe eines
     irgendwie gearteten Idealzustands der Europäischen Union bieten keinen Ersatz für eine psychologische Orientierung. Sie zeugen
     eher von einer Verkrampfung und Verlegenheit, die nicht anerkennen will, dass die Europäische Union für Bewusstseinsschaffung
     weder geeignet noch zuständig ist. Derlei Ansprüche trotzdem hartnäckig zu betreiben, ist nicht nur blütenträumerisch, sondern
     erhöht auch die Gefahr einer moralischen Überspannung. Oder, um es mit George Santayana zu sagen: »Fanatismus besteht im Verdoppeln
     der Anstrengung, wenn das Ziel vergessen ist.«
     
    Warum brauchte es laut den Anhängern der Verhoftstadt-Linie den Lissabon-Vertrag? Weil, so behaupteten sie, Europa ohne die
     neuen Regeln nicht mehr regierbar gewesen wäre. Aber eben dieses Euro-Mantra, wonach verbesserte Institutionen und Prozessabläufe
     auch eine bessere »Performance« schaffen, entpuppt sich als Irrglaube. Mit der Erweiterung um 12 neue Mitglieder auf 27   Staaten hat sich die EU seit 2004 keineswegs selbst gelähmt. Vier Jahre nach der großen Osterweiterungsrunde zeigte sich vielmehr:
     Europa funktioniert genauso gut oder schlecht wie zuvor. Eine Studie der Trans European Policy Studies Association (TEPSA)
     listet auf, dass zwischen 1999 und 2003 jährlich durchschnittlich 195   Rechtsakte in Brüssel erlassen wurden. Nach dem Beitritt der zehn osteuropäischen Neulinge waren es 2005 noch 130.   Aber schon im Jahr 2006 hatte sich die Zahl wieder auf 197 erhöht, also auf mehr als den Durchschnitt vor der Erweiterung. 116
    Die Regierungsform der Europäischen Union wird sich nie mit der Schulbuchdemokratie in den Nationalstaaten messen können.
     Dazu ist ihre Architektur zu vielschichtig. Doch der ganze dickeLissabon-Vertrag ändert nichts an der großen ungeschriebenen Grundregel der EU, die zugleich ihr Grundproblem ist. Sie lautet,
     dass Konsens und Kompromiss die beständige Gesetzgebungsmethode bleiben. Das führt zu einer entrückten Repräsentationsherrschaft,
     vor der die Bürger ratlos, weil ausgeschlossen stehen. Dabei wäre es so einfach, die EU näher heranzurücken an die gewohnten
     »heißen« Formen der Politik. Es bräuchte bloß ein bisschen mehr Mut. Mut zum Streit.
     
    In der Sozialpsychologie gibt es ein Phänomen, das als »kollek tives Wegschauen« bekannt geworden ist. Ihm liegt als typisches Szenario ein Überfall in einem gut besetzten U-Bahn -Wagen zugrunde. Eine Frau wird belästigt, beleidigt, irgendwann sogar angegriffen, aber niemand unternimmt etwas, weil jeder
     denkt, es sei an den anderen, einzugreifen. Experten erklären diese Untätigkeit mit dem »Bystander-Effekt«. Dem Unglück wird
     nicht abgeholfen, wenn und weil es zu viele potenzielle Retter gibt. Wenn niemand persönlich gefordert wird und keiner auf
     Notsignale reagiert, setzt sich die Einschätzung durch, es liege kein Notfall vor. Mit europäischen Themen ist es oft ähnlich.
     Die Verantwortlichkeit für den Lissabon-Vertrag lag, zum Beispiel, gefühlt nie beim Bundestag. Soll doch irgendein anderes
     der 25   Parlamente Einspruch erheben, wenn etwas damit faul sein sollte! Warum sich Ärger einhandeln, wenn offenbar niemand die Sache
     schlimm genug findet, um aufzustehen? Auf diese Weise wird geteilte Verantwortung zum Gift für die Demokratie.
    Geheilt werden kann dieser Mangel nur mit mehr Zivilcourage – oder sollte man sagen: Politikcourage? Sicher, es gibt wenige
     gute Dinge auf der Welt, und die EU ist eines davon. Aber wenn sie als politisch heilig gilt, führt das zu einem gefährlichem
     Kontroll- und
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