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So muss die Welt enden

So muss die Welt enden

Titel: So muss die Welt enden
Autoren: James Morrow
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wieder um und bekam überall an seinem zarten Körper blaue Flecken. (Die Windentwicklung kann einen Menschen hundert Meter weit schleudern, hatte der junge Gary Frostig erwähnt.) Dann brach eines Tages in der Hasenhütte ein Brand aus. Entschlossen sprang das Häschen auf sein Rad, schwirrte zur Feuerwehr und sorgte so für Rettung.
    »Ich möchte auch auf ’m Rad fahren«, sagte Holly.
    »Du wirst es noch lernen«, versicherte George.
    »Ich weiß«, entgegnete Holly leicht verstimmt. Sie klappte das Kinderbuch zu. »Immer dauert alles so langweilig auf der Welt.«

 
KAPITEL 3
     
    Worin die Vereinigten Staaten von Amerika in ein Land der Weißen Wehr verwandelt werden

Allerheiligen rückte näher, die Kürbisse waren so dick und rund, als wüßten sie nichts von Diät, und der kleine Friedhof, hinter dem George seiner Arbeit nachging, hatte einen Geist angelockt.
    Als er das Gespenst zum erstenmal sah, betrachtete es ihn versonnen durchs Vorderfenster der Grabmalwerkstatt Crippen. Im Büro hatte der Schmerbauch Jake Swann gerade sorgsam einen Kaufvertrag durchgelesen – der Vertrag betraf eine größere Bestellung, zu der Jakes Onkel die Voraussetzungen geschaffen hatte, als er am Columbus-Gedenktag nach Hause kam und seine engsten Familienangehörigen niedermähte – und langte nach dem Kugelschreiber, um ihn zu unterzeichnen, da blickte George auf und aus dem Fenster.
    Den Fensterscheiben schienen vom Frost Spinnweben und Arabesken eingeätzt worden zu sein. An einer Scheibe klebte ein blutrotes Blatt des Oktoberlaubs. George und das Gespenst schauten einander in die Augen. Obwohl er im wesentlichen anzweifelte, daß er in der alten Dame tatsächlich ein Geist vor sich sah – Unitarier glaubten nicht an Gespenster –, konnte er doch nicht leugnen, daß ihre gesamte Erscheinung an Aspekte der Unterwelt gemahnte. Sie trug so weite, lose Trauerkleidung, daß sie an ein Bahrtuch erinnerte: Schwarzes Kostüm, schwarze Handschuhe, schwarzer Schleier; letzteren hatte sie gegenwärtig nach hinten gestülpt. Ihr Teint hatte die grünliche Blässe von Moder. Ihre Figur ließ sich mit den gezackten Umrissen eines abgestorbenen Baums vergleichen. Als sie ihm zulächelte, entblößte sie Zähne, wie man sie bei einem zur Maske ausgehöhlten Kürbis sah, und eines ihrer Lider sank herab, als ob sie ihm zuzwinkerte.
    George hatte ein Gefühl, als bildete sich in seinem Magen ein Eisklumpen. Seine Kehle zog sich zusammen wie ein Schließmuskel.
    »Haben Sie Schüttelfrost?« fragte Jake Swann, ein phlegmatischer Zeitgenosse, den der Verlust einer Anzahl Verwandter auf keine erkennbare Weise erschüttert hatte.
    George nahm den Kaufvertrag und verkniff die Stirn zu einem Ausdruck, den er für den Mitarbeiter einer Grabmalwerkstatt als passend erachtete. Verstohlen schaute er zum Fenster hinaus. Das Gespenst war fort.
    Aber später sah George es noch einmal, als er das Büro verließ; es kniete zwischen den Ausstellungsstücken. Erde hatte den Rock der Trauerkleidung beschmutzt; der Schleier verdeckte das Gesicht. George duckte sich hinter Modell 3295. Mehrere Minuten lang starrte die Alte einen unbeschrifteten Grabstein an, als gäbe es darauf ein Epitaph in einem nur Geistern ersichtlichen Medium zu lesen, dann streckte sie von schwarzem Samt umhüllte Finger aus und fuhr damit über die Granitoberfläche des Modells Nr. 6247, eines Grabmals mit obenauf der Heiligen Katharina in Bethaltung. George erwog, die Frau anzusprechen, aber verwarf alle Bemerkungen, die naheliegend gewesen wären – »Das ist wirklich Wertarbeit.« – »Ist auch in Oklahomaer Rosa lieferbar.« – »Wen betrauern Sie, wenn ich fragen darf?« –, als unzulänglich.
    Still umfing das Abenddunkel die Grabmalwerkstatt Crippen. Die Frau richtete den krummen Rücken auf und humpelte auf George zu. »Ich habe einen Auftrag für Sie«, sagte sie. Bei aller Verfallenheit ihres Äußeren hatte sie eine lebhafte Stimme. »Bald werde ich Ihnen Näheres mitteilen können.«
    »Sind wir uns schon mal begegnet?« fragte George.
    »Ich bin immer bei Ihnen gewesen«, gab sie zur Antwort und lächelte. »Ich habe auf Einlaß gewartet.« Und schon verschwand sie im Düstern.
    Im Laufe der Woche bemerkte George sie noch ein Dutzend weitere Male; sie lugte durchs Fenster herein, beugte sich über einen Mustergrabstein oder stand an dem morschen Lattenzaun, der den kleinen Scheinfriedhof umgrenzte.
    Auf Einlaß gewartet…?
    An Allerheiligen schaute sie
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