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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt
Autoren: Diana Menschig
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& Jahr blitzten die Lichter eines Riesenrades auf.
    »Mago ist tot.«
    Die Tasche glitt Merle aus der Hand. Sie brauchte einige Augenblicke, um das Gesagte zu verstehen, denn natürlich hatte sie ihre Omi nie Mago genannt. Trotzdem begriff sie, was Björn gesagt hatte. Sie hatte es irgendwie geahnt.
    »Aber wieso? Seit wann? Warum?«
    »Meine Tochter Ronja und ihre Freunde wollten sie besuchen und haben sie gestern Nachmittag gefunden.« Er brach verlegen ab.
    Merles Verstand wiegelte ab. Omi war alt gewesen, knapp neunzig. Ein Wunder, dass sie bis zuletzt in ihrem Häuschen hatte wohnen bleiben können.
    Björn räusperte sich. »Dein Vater ist ja gerade in Kanada unterwegs. Er hat mir zwar seine Handynummer gegeben, aber ich erreiche ihn nicht. Ich kümmere mich um seine Wohnung, während er fort ist, und bin Mago in den letzten Jahren viel in Haus und Garten zur Hand gegangen. Ich helfe dir ebenso gern bei allem. Aber es wäre besser, wenn ein Familienangehöriger …«
    »Schon klar.« Merle warf einen Blick auf die Uhr. »Ich komme, so schnell ich kann. Kannst du mir deine Telefonnummer geben? Dann melde ich mich, wenn ich dir Genaueres sagen kann. Was muss alles getan werden? Gibt es schon einen Termin für die Beerdigung?« Sie hörte sich reden, als ginge es um das nächste Mandat. Widerlich. Aber das war immer noch besser, als den Gedanken zuzulassen, dass ihre geliebte Omi endgültig fort war. Für immer und ewig. Sie atmete durch, schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter und versuchte, sich zu sammeln. »Tut mir leid. Ich stehe gerade etwas neben mir.«
    Sie sollte mit dem Zug fahren, oder vielleicht bekam sie noch einen Flug nach Basel. So wenig, wie sie in den letzten Tagen geschlafen hatte, würde sie auf der Autobahn wegnicken.
    »Die Beerdigung ist schon morgen Mittag. Mach dir keine Sorgen, ich kann mich um das meiste kümmern. Mago hat selbst für einiges vorgesorgt. Schön, dass du kommst.«
    Merle dankte ihm, beendete das Gespräch und blieb mit dem Telefonhörer in der Hand stehen. Ihr Kopf war völlig leer. Sie wusste nicht, was sie als Nächstes tun sollte.
    Für den Tod gab es sicherlich nie den richtigen Zeitpunkt. Aber es gab schlechte und es gab sehr schlechte Zeitpunkte. Dieser Zeitpunkt war miserabel. Warum ausgerechnet jetzt? Warum Omi? Warum?
    Sie stand am Fenster und starrte durch den Schleier ihrer Tränen auf einen der rot-grauen Züge, der von den Landungsbrücken zum Baumwall fuhr.
    Omi war tot. Ihre Omi. Die gute Fee, die zur bösen Hexe werden konnte, wenn Merle etwas ausgefressen hatte. Ihre Omi, die im echten Knusperhäuschen aus dem Märchen gelebt hatte. Ja, es hatte eine Zeit gegeben, in der Merle das wirklich geglaubt hatte.
    Omi, die damals nach Mamas Tod für die vierjährige Merle da gewesen war, weil Papa arbeiten und Geld verdienen musste. Das war die Zeit gewesen, in der Merle sich von absolut niemandem sonst geliebt gefühlt hatte. Erst später hatte sie begriffen, dass ihr Vater genauso sehr unter der Trennung von seiner Tochter gelitten hatte wie sie selbst. Aber er hatte immer gewusst, dass sie bei seiner Mutter in den besten Händen gewesen war. Zum Glück hatte auch Merle es lange, bevor sie erwachsen geworden war, erkannt.
    Später wurden Omi und ihr abgeschiedenes Häuschen für Merle zu einem Zufluchtsort fernab der Zivilisation. Jedes Jahr hatte sie ihre kompletten Sommerferien und noch ungezählte Wochenenden und Ferientage mehr dort verbracht und war mit Björn auf der Jagd nach Kobolden durch den Wald gestreift, während ihre Altersgenossen sich in Italien oder Spanien an den Stränden tummelten.
    Sie starrte auf Beton und Stahl, das Wasserflugzeug am Jachthafen und den Rundbogen des Riesenrades. Nur die Spitze des Michels, noch immer dunkelgrau statt kupfergrün, ragte archaisch aus dem Panorama der modernen Welt. Bei seinem Anblick dachte Merle an die riesige aus Lehm gemauerte Esse mit der Holzvertäfelung und den Schaukelstuhl. Natürlich hatte in Omis Stube ein Schaukelstuhl gestanden. Auch wenn sich Merle nicht daran erinnern konnte, dass jemals jemand in dem Stuhl gesessen hatte.
    Die Sonne färbte die Unterseiten der Wolken blutrot. Dann versank sie, und die strahlende Fassade des Hochhauses erlosch.
    Ihre Omi war tot. Jetzt waren sie und ihr Vater ganz allein.

Zwei
    Begegnungen
    M erle, schön, dass du kommen konntest. Wir haben uns ja ewig nicht gesehen. Hast du deinen Vater inzwischen erreicht?«
    Vor Merle stand ein blonder Mann um die
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