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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt
Autoren: Diana Menschig
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zu nichts entscheiden. Sie griff nach ihrer Handtasche, kontrollierte das Smartphone, versuchte es bei ihrem Vater. Wie gehabt: »Der Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar.« Warum auch? Es war Papas großer Traum, einmal quer mit einem Wohnmobil durch Kanada zu fahren, in den Nationalparks zu wandern, zu fischen, ein paar gute Bücher zu lesen. Er hatte sich zuvor kaum etwas gegönnt, war beruflich durch ganz Europa gereist, um Industrieanlagen in Betrieb zu nehmen. Den Rest seiner spärlichen Zeit hatte er so gerecht wie möglich zwischen seiner Mutter, seiner Tochter und seinen Freunden aufgeteilt. Es mochte sogar sein, dass Merle dabei etwas zu kurz gekommen war, seit ihr Vater im Ruhestand nach Steinberg gezogen war. Bisher hatte sie ihn kaum vermisst.
    Aber heute fühlte sie sich sehr allein.
    Sie stellte sich ans Spülbecken und starrte auf den Rhododendron vor dem Küchenfenster, während sie die Arme um ihren Oberkörper schlang, wie um sich zu wärmen. Hatten ihr Vater und seine Mutter genug Zeit füreinander gehabt? Wie viel Zeit blieb ihr und Papa noch? Zeit war ein seltsames Phänomen. Gerade jedenfalls war sie stehengeblieben.
    Merle tigerte ruhelos durch die Küche und das Wohnzimmer, richtete ein paar bereits perfekt arrangierte Kissen auf dem Sofa, pflückte ein welkes Blatt von einer Topfpflanze und kam sich unnütz vor. Irgendwann kehrte sie an den Küchentisch zurück und nahm den Umschlag zur Hand. Wenn sich darin wirklich wichtige Unterlagen befanden, konnte sie sich ebenso gut jetzt darum kümmern. Das war sicherlich besser, als damit zu warten, bis sie wieder in Hamburg war.
    Sie öffnete die Lasche und zog einen dicken Stoß Papiere sowie eine dünne braune Ledermappe hervor. Ein Zettel fiel heraus und kreiselte zu Boden. Merle hob ihn auf. Sie erkannte Omis krakelige Handschrift, eine Mischung aus Sütterlin und Druckbuchstaben. Nur ein Satz stand dort geschrieben:
Was geschah wirklich im Knusperhäuschen?
    Merle lächelte sanft. Das war ohne Frage der Überrest einer Märchenrecherche ihrer Omi. Ständig hatte diese versucht, den wahren Kern vieler Märchen zu ergründen – und war stets überzeugt davon gewesen, dass es einen solchen geben musste.
Hänsel und Gretel
hatte es ihr besonders angetan. Vielleicht auch deshalb, weil sie mit vollem Namen Margarete geheißen hatte. Grete, Gretel oder Greta hatte sie als Kosenamen allerdings zeit ihres Lebens gehasst und sich deren Benutzung strikt verboten. Überhaupt war ihre Omi stets ein Sturkopf gewesen. Mit der Entschlossenheit einer Miss Marple war sie einmal im Jahr nach Freiburg gereist, um dort die germanistische Fakultät unsicher zu machen. Soweit Merle wusste, hatte sie wegen ihrer Märchenpassion sogar mit einem Professor aus Leipzig korrespondiert. Sie hatte ihn den Märchenprofessor genannt und eine Zeitlang regelmäßig Briefe von ihm erhalten. Merle konnte sich noch gut an die DDR -Briefmarken auf den Umschlägen erinnern, die es ihr als Kind angetan hatten.
    Wie auf Bestellung fiel ihr ein zusammengebundener Stapel Briefe mit dem Stempel der Universität Leipzig in die Hände, während es gleichzeitig an der Haustür klingelte. Verwundert warf Merle einen Blick auf die Küchenuhr. Bis zum Beginn des Gottesdienstes dauerte es immer noch mehr als eine gute Stunde. Neugierig stand sie auf und öffnete. Es war Björn, der verlegen grinste. »Darf ich reinkommen und dir Gesellschaft leisten? Ich wurde aus dem Gemeindesaal verjagt.«
    »Klar. Soll ich uns einen Kaffee kochen?«
    »Nein danke. Wir werden nachher ausreichend Kaffee bekommen.«
    Gemeinsam gingen sie in die Küche und setzen sich an den Tisch. Björn schielte neugierig auf die ausgebreiteten Unterlagen.
    »Ist deine Tochter wieder aufgetaucht?«
    »Bisher nicht.« Sein Schulterzucken erschien Merle ein wenig zu betont gleichgültig. Offenbar machte er sich doch langsam Gedanken und gab es nicht gern zu.
    Sie zog die Ledermappe zu sich heran. »Ich habe gerade den Umschlag aufgemacht, aber noch nicht herausgefunden, was der Inhalt bedeuten soll. Es scheinen Unterlagen einer Recherche über alte Märchen zu sein.«
    »Wundert mich kein bisschen. Mago ist durch und durch eine Märchenoma gewesen. Sie hat jeden Donnerstagabend im Gemeindesaal vorgelesen. Wenn die Kinder wollten, konnten sie zu ihr kommen und sich Märchen oder Erzählungen anhören. Oben im Haus ist ein riesiger Fundus. Aber das weißt du sicher besser als ich. Obwohl Mago streng gewesen ist und sie immer
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