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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt
Autoren: Diana Menschig
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alle, wie Ronja gern sagt, ›voll einen auf brav machen müssen‹, haben die Kinder es geliebt, sogar die älteren. Es ist etwas Besonderes gewesen. Eine kleine Reise in die Vergangenheit abseits von Fernsehen und Computer.« Er lächelte. »Jedes Mal hat sie selbstgemachte Lebkuchen mitgebracht. Ich habe auch immer welche mitnehmen müssen. Nicht, dass ich mich groß dagegen gewehrt hätte.«
    »Ihre Lebkuchenmännlein …« Merle senkte den Kopf und kämpfte gegen die Tränen an. Noch so eine Erinnerung an früher. Daran, wie es geduftet hatte, wenn Omi die frisch gebackenen Männlein aus dem Ofen gezogen hatte und Merle es kaum erwarten konnte, in den warmen Lebkuchen zu beißen … Verdammt, zum Weinen hatte sie nachher noch genug Gelegenheit!
    Björn beugte sich zu ihr. »Geht es dir gut?«
    »Ja, sicher.« Merle lächelte traurig und wischte sich über die Wangen. Um deutlich zu machen, dass sie dieses Thema nicht weiter verfolgen wollte, griff sie nach der Mappe und klappte sie auf. Darin lagen acht Seiten aus vergilbtem Papier, das dicht mit einem lateinischen Text beschrieben war. Sie sahen aus wie Kopien aus einem alten Buch. Außerdem fand sie zwei herausgerissene Seiten aus einem Schulheft, auf denen ihre Großmutter Notizen gekritzelt hatte, die auf den ersten Blick so unleserlich waren, dass es ebenso gut Latein hätte sein können. Dazu ein A 5 -Umschlag, der von der germanistischen Fakultät der Universität Leipzig am 14 . Oktober 1969 abgeschickt worden war. Er enthielt ein Anschreiben des Sekretariats von einem Professor Hermann Steiner sowie knapp zwanzig Seiten Schreibmaschinentext.
    Merle begann, das Anschreiben zu überfliegen, und schnappte überrascht nach Luft. »Björn, hör dir das mal an:
     
    Bei dem Text handelt es sich um die Niederschrift eines Benediktinermönches namens Bartholomäus um das Jahr
1647
. Er beschreibt darin die Geschichte des Mannes Johannes, genannt Hans vom Wald, aus Steinberg. Ob dieser Hans tatsächlich einer Ihrer Vorfahren ist, kann ich anhand des Textes nicht verifizieren.
    Inhaltlich handelt es sich um einen Bericht des Mönches über das, was er von Hans erfahren hat. Es kommt einer ausführlichen Lebensbeichte nahe, die allerdings mit umfassenden abergläubischen Überzeugungen oder sogar Wahnvorstellungen durchsetzt ist. Ich vermag nicht zu entscheiden, wo die Grenze verläuft. Der Glaube an das Übernatürliche war inmitten der Frühen Neuzeit in den Menschen noch immer tief verwurzelt. Der Bericht endet mit der Beschreibung eines Exorzismus des Hans vom Wald.
    Neben einer vollständigen Übersetzung, bei der ich mir die Freiheit herausgenommen habe, sie ein wenig an die moderne Sprache anzupassen, sende ich Ihnen beiliegend ausführliche Interpretationsansätze einiger Schlüsselstellen des mir von Ihnen zugesandten Textes. Sie hatten in Ihrer Erwartung recht, liebe Frau Hänssler. Einige der benannten Motive in Hans’ Erzählung sind in vielen klassischen Märchen zu finden: der Wald, die Stiefmutter, der Kampf des Guten gegen das Böse. Es ist gut möglich, dass es sich bei dem von Ihnen eingereichten Text um eine Vorläufervariante von
Hänsel und Gretel
handelt. Zusätzlich sehe ich Übereinstimmungen zu
Schneewittchen, Die Alte im Wald
und anderen Märchen.
    Ich weise noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass es mir unmöglich erscheint, die reale Geschichte von Hans vom Wald von seinem Aberglauben und der zweifellos erfolgten Interpretation des Schreibers Bartholomäus zu trennen.«
     
    Merle schaute Björn an. Der lachte irritiert. »Da glaubt Mago wohl, von Hänsel abzustammen. Oder sogar Hänsel
und
Gretel?«, meinte er.
    Sie grinste unbehaglich. »Wenn Omi damit recht hätte, wäre mein Vorfahr laut diesem Professor Steiner entweder eine Märchengestalt oder ein Wahnsinniger. Ich weiß gerade nicht, was mir besser gefällt.«
    »Steht da noch mehr?«
    Merle überflog die letzten Zeilen des Schreibens. »Nur noch das übliche Blabla, viel Erfolg, gerne wieder behilflich, freundliche Grüße.«
    »Es passt sehr gut zu meinem Bild von ihr«, erklärte Björn wieder ernster. »Wie schon gesagt: eine Märchenoma durch und durch. Die Kinder haben sie manchmal ›Hexe‹ genannt, aber ich habe nie mitbekommen, dass eines von ihnen es böse gemeint oder tatsächlich Angst gehabt hat. Es war eher ein Ausdruck von Verehrung.« Er hob hilflos die Schultern. »Sie ist sehr streng gewesen. Klar, anders ist so einem ganzen Kinderhaufen kaum
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