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Small World (German Edition)

Small World (German Edition)

Titel: Small World (German Edition)
Autoren: Martin Suter
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Alt-Insulin heraus. Ein rasch aber nur kurze Zeit wirkender Insulintyp, den man zur Ersteinstellung bei absolutem Insulinmangel verwendet.
    Er zog eine Spritze auf und injizierte sie in ihren Oberschenkel. »Ein Kilo Pralinen haben Sie ja wohl nicht gegessen.«
    Elvira winkte ab. Sie haßte Süßigkeiten.
    »Und Sie sind sicher, daß Sie immer gespritzt haben?«
    »Ich glaube schon. Aber vielleicht kontrollieren Sie es besser, ich bin eine alte Frau. Im Badezimmer im kleinen Kühlschrank.«
    Dr. Stäubli ging ins Bad. Elvira beugte sich aus dem Bett und griff in seinen Koffer. Als er nach einer Weile zurückkam, war er ratlos. »Scheint alles korrekt. Die Aufzeichnungen und der effektive Verbrauch stimmen überein. Ich werde die angebrochene Patrone ins Labor schicken.«
    Dr. Stäubli versprach, am nächsten Tag wieder nach ihr zu sehen.
    Als sie allein war, griff Elvira unter die Bettdecke, holte die Stechampulle Insulin heraus und stellte sie auf den Sekretär.
    Simone und Dr. Kundert hatten im Fresco reserviert, einer der vielen ehemaligen Quartierbeizen, die die neuen Besitzer auf die alte Substanz reduziert und mit weißer Farbe, Papiertischtüchern, gutgelauntem Personal und unprätentiöser, internationaler Küche in sympathische Trendlokale verwandelt hatten.
    Sie bestellten griechischen Salat und als Hauptgang Tacos. Die Kellnerin duzte sie beide, und Simone bemerkte zu Dr. Kundert: »Ich glaube, wir sind die einzigen Menschen in diesem Raum, die einander siezen.« Von diesem Moment an duzten sie sich.
    »Was ich dich schon lange fragen wollte: Warum tust du das für ihn? Du kennst ihn doch gar nicht.«
    »Ich weiß es nicht.« Sie dachte nach. »Er tut mir einfach leid. Wie ein ausgedienter Teddybär. Ab und zu noch einmal hervorgekramt aus Langeweile und irgendwann ganz weggeschmissen. Das kann doch nicht das Leben gewesen sein.«
    Kundert nickte. Simones Augen füllten sich mit Tränen. Sie nahm ein Taschentuch aus der Handtasche und wischte sie ab. »Entschuldige, das passiert mir öfter, seit ich schwanger bin. Wer, glaubst du, ist auf den herausgerissenen Fotos?«
    »Konrad Lang«, antwortete Kundert ohne Zögern.
    »Das vermute ich auch.«
    Kundert schenkte Wein nach. »Das würde auch erklären, warum er Koni und Tomi auf den alten Fotos verwechselt.«
    »Man hat ihm gesagt, er sei Koni, dabei ist er Tomi.«
    »Wie ist so etwas möglich?«
    »Bei Vierjährigen ist das nicht ausgeschlossen: Tomikoni, Konitomi. Mama Vira, Mama Anna.« Kundert wurde aufgeregt. »Die beiden Frauen haben die Kleinen so durcheinandergebracht, haben mit ihren Identitäten so lange gespielt, bis diese nicht mehr wußten, wer sie waren. Und dann haben sie sie vertauscht.«
    »Und jetzt, mit der Krankheit, taucht bei Koni die alte Identität wieder auf?«
    »Es ist denkbar, daß bei ihm die Struktur des semantischen Wissens so durcheinandergeraten ist, daß diese Informationen eine höhere Priorität erhalten haben. Oder vielleicht sind durch die Krankheit Erinnerungskapazitäten frei geworden. So konnten alte Erinnerungen in den Vordergrund treten.«
    »Aber warum sollten die beiden Frauen die Kinder tauschen?«
    »Für Anna Langs Kind. Damit es die Koch-Werke erbt.«
    Das Ganze ergab für Simone keinen Sinn. »Wie käme Elvira dazu, Anna Lang diesen Gefallen zu tun?«
    Das Fresco hatte sich gefüllt. Das Gemurmel und Gelächter sorgloser Menschen und der Geräuschteppich aus Tangos, Belcantos und Rock-Klassikern verschluckten die Ungeheuerlichkeit, die Simone jetzt leise aussprach: »Demnach wäre Koni der wahre Erbe der Koch-Werke.«
    Auch zur vorgerückten Apérostunde war die Bar des Des Alpes schwach besetzt. Ein paar Hotelgäste, ein paar Geschäftsleute, ein Pärchen, dessen Beziehung noch nicht so weit gefestigt war, daß es sich in besser frequentierten Lokalen blicken lassen wollte, und die Hurni-Schwestern, die die Pause des Pianisten dazu benutzten, umständlich ihre Rechnung zu signieren.
    Charlotte, die Nachmittagsbarfrau, war von Evi abgelöst worden, auch sie nicht mehr fünfzig und offensichtlich eine der wenigen regelmäßigen Kundinnen im hoteleigenen Solarium.
    Vom Pausenband sang Dean Martin You’re nobody till somebody loves you .
    Urs Koch saß in einer Nische mit Alfred Zeller. Beide hatten ein Glas Whisky vor sich, Urs mit Eis, Alfred mit Eis und Wasser. Die beiden kannten sich seit ihrer Jugend. Sie waren zusammen im »St. Pierre« gewesen, wie schon ihre Väter. Alfred hatte nach dem Internat
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