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Slide - Durch die Augen eines Mörders

Slide - Durch die Augen eines Mörders

Titel: Slide - Durch die Augen eines Mörders
Autoren: Jill Hathaway
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versehentlich etwas Gefährliches anzufassen. Doch dann vergaß ich es einmal und schlief prompt mit dem Kopf auf meinem Pult ein. Ich wanderte in einen älteren Jungen, der im Supermarkt Zigaretten klaute. Ich spürte sein Herz unter seinem dicken schwarzen Mantel schlagen und den Schweiß unter seinen Achselhöhlen. Als meine Lehrerin mich weckte, schaute ich sie entsetzt an, als könnte sie mir ansehen, was ich soeben getan hatte.
    Dann wurde mir klar, dass alle Leute schlimme Dinge taten. Meine Lehrerin trank heimlich Flüssigkeiten, von denen mir die Kehle brannte. Meine Schwester schummelte bei der Mathearbeit. Der Briefträger unterschlug Päckchen und nahm sie mit nach Hause. Die Leute taten auch Gutes – schrieben Danksagungskarten, hielten alten Damen die Tür auf und lächelten einander zu –, doch es war nicht die Mehrheit. Tatsache ist, dass die meisten Leute Geheimnisse hinter ihren Augen verbergen.
    Später wanderte ich öfter. Erst einmal im Monat, dann einmal pro Woche und inzwischen mehrmals pro Woche. Selbst wenn ich ein paar Tage lang nicht wandere, bin ich erschöpft, unkonzentriert und damit noch anfälliger. In den letzten Wochen passiert es immer öfter. Als gäbe es einen Grund dafür. Ich wünschte, ich wüsste welchen.
     
    In meinem Zimmer werfe ich den Rucksack aufs Bett, doch meine Schultern bleiben angespannt. Etwas lastet auf mir. Vielleicht die hässlichen Worte, die aus Ambers Mund gekommen sind. Vielleicht auch Sophies Verzweiflung. Oder das Lächeln von Zane, bei dem mich ein Stromschlag durchfuhr. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber ich muss mich irgendwie entspannen.
    Ich brauche Musik.
    In meinem Schrank, hinter dem Berg von Converse-Schuhen, die ich in allen Regenbogenfarben besitze, bewahre ich einen Karton mit CD s auf, die meiner Mutter gehört haben. Ich weiß nicht, weshalb ich sie verstecke; meinen Vater interessiert es nicht, und meine Schwester hat nun wirklich keine Lust auf Musik aus den Neunzigern. Aber es kommt mir vor, als würden sie frisch bleiben, wenn ich sie verstecke. Als könnte ich meine Mutter noch ein bisschen länger bei mir behalten.
    Ich lege eine CD von
Pearl Jam
in meinen Laptop und krieche ins Bett. Da nehme ich mir das Astronomiebuch und fahre über den Einband. Er ist schwarz und mit winzigen Lichtlöchern gesprenkelt. Es gibt nichts Herrlicheres als den Nachthimmel. Nichts.
    Beim Blättern finde ich die Ecke, die ich sorgfältig umgeknickt habe. Schwarze Löcher. Sie sind traurig und eindrucksvoll. Wenn gewaltige Sterne sterben, wird ihr Kern so dicht, dass er alle anderen Dinge anzieht, in die Unendlichkeit saugt. Schwarze Löcher scheinen eigentlich unmöglich, weil sie sich den Gesetzen der Physik widersetzen, doch da steht es, schwarz auf weiß. Ich wünschte, es gäbe ein Buch, das mein Wandern erklärt.
    Dann kommt der Song
Alive
, und mein Herz macht einen Sprung. Ich lehne mich ins Kissen und konzentriere mich auf den Text. Es geht um einen Jungen, der herausfindet, dass sein Vater tot ist. Obwohl er ihn nicht gekannt hat, hinterlässt sein Tod eine Narbe. Er spürt eine so allumfassende Abwesenheit, dass sie auch in den glücklichsten Augenblicken nicht verschwindet.
    Ich schließe die Augen und wünsche mir, ich könnte meiner Mutter von meinem Tag erzählen. Ich würde ihr sagen, dass ich mir Sorgen um Sophie mache und dass es einen neuen Jungen gibt, der ziemlich toll ist, und dass ich fürchte, dass Mattie und Amber nichts Gutes im Schilde führen. Ich würde ihr sagen, dass ich sie vermisse. Dass ich sie liebe. Ich würde ihr alles sagen.

4. Kapitel
    E inige Stunden später stürmen Mattie und Amber in die Küche, ein Wirbel aus Pferdeschwänzen, Gekicher und Pompons. Ich verdrehe über meinem Glas Kakao die Augen. Durchs Küchenfenster sehe ich den Wagen von Samantha Phillips wegfahren. Es ist lächerlich, dass Samantha jetzt mit meiner kleinen Schwester abhängt, sozusagen ein Upgrade auf die neuere, strahlendere Version meiner selbst. Vermutlich war es unvermeidlich, da Mattie im Cheerleader-Team ist. Außerdem haben sie und Mattie sehr viel mehr gemeinsam. Mattie kann zum Beispiel stundenlang mit Samantha telefonieren und sich über die Vorzüge von Stringtangas auslassen.
    Mattie wirft Handtasche und Pompons auf den Küchentisch, bevor sie über den Kühlschrank herfällt. »Hey!« Sie schneidet mir eine Grimasse. »Du hast den Kakao ausgetrunken.«
    Sie holt eine Flasche Evian heraus und nimmt einen tiefen
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