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Slide - Durch die Augen eines Mörders

Slide - Durch die Augen eines Mörders

Titel: Slide - Durch die Augen eines Mörders
Autoren: Jill Hathaway
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mit dem pink leuchtendem Haar sieht wild aus – rebellisch und frei. Ich wünschte, ich würde mich auch so fühlen. Ich habe mir die Haare gefärbt, weil ich mein helles Blond nicht mehr sehen konnte. Meine Naturhaarfarbe ist genau wie die meiner Mutter. Ich wollte nicht jeden Tag in den Spiegel blicken und sie vermissen.
    Doch auch andere Spuren von ihr leben in mir weiter. Dass ich beim Lachen gackere, wenn ich etwas lustig finde. Dass meine Haut einfach nicht braun werden will, egal wie lange ich in der Sonne liege.
    Und ich weiß, dass auch sie Narkolepsie hatte. Ich habe das Unglücksgen von ihr geerbt. Ich erinnere mich, dass sie manchmal beim Fernsehen oder Essen einschlief. Wenn sie aufwachte, spielte ein seltsames kleines Lächeln um ihre Lippen. Ich würde alles darum geben, um zu erfahren, was sie im Schlaf erlebt hat. Ob sie wie ich war. Ob auch sie gewandert ist.
     
    Ich erinnere mich nicht, wann es zum ersten Mal passierte, aber es war nach dem Tod meiner Mutter. Als ich zwölf war, so erzählt mein Vater, sei er in mein Zimmer gekommen und habe mich bewusstlos auf dem Boden gefunden. Ich hätte kaum noch geatmet. Er konnte mich nicht wecken. Also fuhr er mit mir in die Notaufnahme, doch niemand wusste, was mit mir nicht stimmte. Schließlich wachte ich auf und war putzmunter, als wäre nichts gewesen.
    Die Ärzte führten endlose Untersuchungen durch. Da ihnen keine bessere Erklärung für meine Anfälle von Bewusstlosigkeit einfiel, diagnostizierten sie Narkolepsie, die anscheinend in der Pubertät auftreten kann. Als ich versuchte, meinem Vater zu erklären, was
wirklich
mit mir passierte, schickte er mich zu einer rothaarigen Psychotherapeutin namens Mrs Moran. Sie sagte, ich würde den Schmerz über den Tod meiner Mutter verarbeiten, indem ich mir Geschichten ausdächte. Es sei ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Mein Vater fand das überzeugend.
    Da fing ich an zu lügen.
    Im Laufe der Zeit gewöhnte ich mich daran. Und lernte die Regeln. Wie auf dem Klassenausflug, als ich dreizehn war. Ich hatte Miss Ryans Pullover angezogen, weil es plötzlich kalt geworden war und ich keine Jacke dabei hatte. Sie warnte mich, keine Flecken darauf zu machen, weil ihre Großmutter ihn selbst gestrickt hatte. Gerade noch ging ich durchs Museum und schaute mir die Bilder an, und dann – war ich weg.
    Ich fand mich im Schulbus wieder. Plötzlich stellte sich ein Mann hinter mich und legte die Hände um meine Taille. Er sagte: »Nancy, Nancy.« So hieß Miss Ryan mit Vornamen. Er drehte mich zu sich, und ich erkannte den Busfahrer.
    Er und sein Schnurrbart kamen näher. Sein Gesicht senkte sich auf meins, und seine Zunge drang in meinen Mund. Das war mein erster Kuss. Es war das Scheußlichste, das mir je passiert war. Er schmeckte nach Aschenbecher und Tic Tac Orange. Seine Hand glitt unter meine Bluse, und ich betete, dass es schnell vorbei sein möge.
    Als ich aufwachte, schaute ich ins Gesicht eines Museumswärters. Ich war hingefallen und hatte mir den Kopf gestoßen. Er ließ mich gehen, nachdem ich ihn davon überzeugt hatte, dass es keine Gehirnerschütterung war. Ich erinnere mich genau, wie ich Miss Ryan den flauschigen Pullover zurückgab. Es machte klick, und ich begriff, dass ich wegen des Pullovers in sie gewandert war. Sie hatte etwas von sich selbst – ihre Essenz – darin hinterlassen, und die hatte ich irgendwie aufgenommen. Den Begriff
Empathie
lernte ich erst einige Jahre später, doch ich verstand damals schon, was damit gemeint war. Man kann fühlen, was ein anderer fühlt, man betrachtet das Leben durch die Augen eines anderen. Ich besaß eine Gabe.
    Oder einen Fluch, je nachdem.
    Als ich mit dem Bus nach Hause fuhr, musste ich die ganze Zeit den Fahrer anstarren. Als er mir zuzwinkerte, ging ich schnell an ihm vorbei. Noch Jahre später hatte ich Albträume, in denen er mich ins Gesicht biss.
    Zuerst kam es nicht oft vor. Vielleicht alle paar Monate. Doch ich war so unsicher, dass ich mich fürchtete, irgendetwas anzufassen. Es war schwer zu sagen, welche Gegenstände emotional aufgeladen waren. Da gab es natürlich die offensichtlichen Dinge, die die Menschen liebten und hegten – Trauringe oder Fotos ihrer Großeltern –, aber auch welche, mit denen ich nicht rechnete. Einen geliehenen Stift. Ein Buch aus der Bücherei. Etwas, das jemand berührt hatte, während er sich in einem emotionalen Ausnahmezustand befand.
    Eine Zeitlang umwickelte ich meine Finger mit Klebeband, um nicht
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