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Sinnliches Erwachen

Sinnliches Erwachen

Titel: Sinnliches Erwachen
Autoren: Gena Showalter
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schwärende Wunde, von der er wusste, dass sie niemals heilen würde.
    Er war, was er war.
    Er war, wozu seine Eltern ihn gemacht hatten.
    Er hatte versucht, sich darüber zu erheben. Hatte versucht, besser zu sein. Aber jedes Mal hatte er jämmerlich versagt. Ohne Unterlass strömte Finsternis auf ihn ein, peitschte gegen einen instabilen Damm aus verdorbenen Erinnerungen und zerfressenden Gefühlen. Einen Damm, den er nur nach Ausbrüchen wie diesem von Neuem errichten konnte.
    Wie besessen prügelte er auf die Wand ein, bis er keuchte und schweißüberströmt war. Bis Haut und Gewebe in Fetzen hingen und den Blick auf gebrochene Knochen freigaben. Selbst dann hätte er noch stundenlang weitermachen können, doch er tat es nicht. Er zwang sich, mit gemessener Präzision auszuatmen und zu visualisieren, wie ein Wasserfall purer Schwärze aus ihm herausströmte.
    Der Damm festigte sich wieder.
    Langsam machten sich stechende Schmerzen bemerkbar, doch das war okay. Die Prügelattacke war vorüber. Das war alles, was zählte.
    Barfuß tappte er durchs Wohnzimmer. Auf dem Weg griff er sich an den Kragen des dreckigen Gewands und zog es sich über den Kopf. Er ließ das Kleidungsstück zu Boden fallen, während Wind und Gischt ihn ungehindert umspielten. Hier gab es keine Türen gegen den Sturm, keine Fenster, die das Lied der Natur aussperrten; das gesamte Haus war allen Elementen geöffnet. Besser noch, die Wände genau wie Decke und Fußboden waren von den Elementen selbst geformt worden, eine glitzernde Skulptur aus dunklem Felsgestein.
    Er hielt inne an einer Kante, die den Blick auf einen herrlichen rauschenden Wasserfall freigab, der sich donnernd in ein scharfkantiges Becken darunter ergoss. Dichte Gischt schlug von der aufgewühlten Meeresoberfläche empor und legte sich umseinen nackten Leib.
    Hierher kam er, wenn er sich nach Ruhe und Frieden sehnte. Das Tosen um ihn herum ließ seinen Geist irgendwie ruhiger erscheinen, als er war. Als der Wind stärker wurde, klickten die Perlen aneinander, die er sich in den langen Bart geflochten hatte.
    Einst hatte er auf dem Kopf die passende Mähne dazu gehabt. Lang, dick und schwarz, mit unzähligen Perlen in den kostbaren Strähnen. Jetzt – mit einer Hand rieb er sich über die glatte Kopfhaut –, jetzt war er kahl, das geliebte Haar für seine Rache geopfert.
    Jetzt sah er aus wie sein Vater.
    Bevor er etwas dagegen tun konnte, glitten seine Gedanken zurück zu einem der vielen Male, wo er am Grund einer tiefen, dunklen Grube gestanden hatte, während Tausende zischende Naga-Dämonen über seine Füße geglitscht waren – Füße, die gehäutet waren wie ein Stück Fisch. Während sie sich ihm um den Hals geschlängelt hatten – einen Hals, der aufgeschnitten war wie eine Weihnachtsgans.
    Nagas waren ganz ähnlich wie Schlangen, und ohne Unterlass hatten sie ihre Fangzähne in sein Fleisch geschlagen, überall, und ihr Gift direkt in seine Blutbahn gepumpt. Doch die ganze Zeit über hatte er vollkommen still dagestanden, war stark geblieben, hatte sich geweigert, auch nur ein Stöhnen auszustoßen. Sein Vater hatte geschworen, er würde ihm für jedes Zeichen von Schwäche, das er erkennen ließ, einen Finger abschneiden. Und wenn keine Finger mehr übrig wären, hatte man ihm gesagt, würde er die Hände verlieren, die Füße … die Arme und Beine.
    Zu jenem Zeitpunkt war er noch nicht voll ausgewachsen gewesen – was auch der Grund war, dass seine Flügel nicht nachgewachsen waren – und hätte sich nicht regenerieren können. Sein Leben lang hätte er leiden müssen, und er …
    Er trieb die hässliche Erinnerung zurück in die hintersten Ecken seines Geistes, wo sie hingehörte. Dann hatte ihn sein Vater eben elf Jahre lang gefoltert. Na und? Himmelsgesandte hatten ihn gerettet, und später war er selbst Teil einer Armee geworden. Nicht jener Armee, der er jetzt angehörte, sondern der, die dem mittlerweile verstorbenen Ivar unterstanden hatte. Damals war Ivar der Beste aus der Elite der Sieben gewesen. Unter seinem Befehl zu kämpfen hatte eine Ehre bedeutet.
    Und doch hatte Koldo bei einem ganz ähnlichen Wutausbruch wie diesem jene Möglichkeit mit Füßen getreten, hatte Ivar vor den Augen all seiner Männer besiegt.
    Bis heute verfolgte ihn die Reue. Ein solches Fehlen von Respekt gegenüber einem so bewundernswerten Mann …
    Koldo war aus der Armee geworfen und sich selbst überlassen worden – eine Weile lang. Diese Zeit hatte er genutzt, um zum
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