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Silentium

Silentium

Titel: Silentium
Autoren: Wolf Haas
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möglich?»
    «Ich habe eine jahrelange Therapie mit ihm gemacht.»
    «Sie sind nicht Arzt, sondern Psychologe?»
    «Nein, ich bin Hausmann. Meine Frau verdient das Geld, und ich kümmere mich um unsere vier Kinder. Darum praktiziere ich nicht als Therapeut.»
    «Außer bei Ihrem Freund. Glauben Sie, daß seine Behauptungen wirklich ganz wahr sind?»
    Die Glocken einer Kirche haben viermal geschlagen. Und dann sechsmal.
    «Das ist die Kollegienkirche», hat der Dr. Prader dem Brenner erklärt.
    Dann hat eine andere Glocke viermal und eine etwas hellere sechsmal geschlagen.
    «Der Dom.»
    Dann haben die Priesterhausglocken geschlagen, dann die Franziskanerkirche, Sankt Peter und die Ursulinenkirche fast gleichzeitig, dann die Kajetanerkirche, dann von hinter dem Berg die Maxglaner Kirche und direkt vom Berg die Glocken vom Kloster Nonntal und wieder von unten die Blasiuskirche, dann direkt auf dem Mönchsberg die Palotinerglocken, immer schön vier Schläge für die volle Stunde und dann sechsmal. Wenn es von mehreren Türmen gleichzeitig geschlagen hat, ist man mit dem Zählen nicht ganz nachgekommen, aber natürlich überall sechs Uhr, weil die paar Zentimeter zwischen zwei Salzburger Kirchen machen noch keine neue Zeitzone aus.
    «Man könnte fast auf den Gedanken kommen, daß es sechs Uhr ist», hat der Brenner gesagt, praktisch trockener Humor. Aber sofort sind ihm die Glocken von einer Nachzüglerkirche übers Maul gefahren, daß die Luft nur so gezittert hat.
    «Ja und nein», hat der Dr. Prader gesagt. Aber nicht philosophischer Zweifel, ob es wirklich sechs Uhr ist, sondern Antwort auf die vorherige Frage vom Brenner, ob der Bischofskandidat Schorn wirklich, wie soll ich sagen, den Gottlieb ein bißchen gedingst hat.
    «Ja, ich glaube schon, daß seine Behauptungen ganz wahr sind», hat er erklärt. «Und nein, ich glaube nicht, daß es die ganze Wahrheit ist.»
    «Wie bei diesem russischen Stabhochspringer.»
    «Wie bitte?»
    Der Brenner hat ihn kurz mit der Geschichte vom Sportpräfekt Fitz über Therapeuten und Stabhochspringer zum Lachen gebracht. «Was ich damit sagen will», hat er in das Lachen vom Dr. Prader hineingesagt, «es braucht also noch seine Zeit, bis der Gottlieb die ganze Vergangenheit aufgearbeitet hat?»
    «Ja und nein.»
    Der Brenner hat überlegt, ob er wieder zwei Fragen auf einmal gestellt hat oder ob das diesmal nur das schwammige «ja und nein» war, wie er es als Marianumsstil schon zur Genüge gekannt hat.
    «Die Probleme eines Menschen müssen nicht unbedingt immer in der Vergangenheit liegen.» Der Dr. Prader hat dabei auf das offene Festspielhaus-Dach unter ihnen gedeutet. Weil wunderbare Konstruktion, und die haben zum Lüften einfach das Dach der Felsenreitschule aufmachen können. «Sie wissen ja, wer der Schwiegervater vom Gottlieb ist.»
    «Ja und nein», hat der Brenner gesagt, weil typisch Brenner, daß ihm das so gefallen hat, daß er es gleich nachsagen hat müssen.
    Dabei hat er in dem Moment noch überhaupt keine Ahnung gehabt, daß ausgerechnet der Vizepräsident der Salzburger Festspiele der Schwiegervater vom Gottlieb war. Das hat er erst gerade jetzt im Gespräch vom Dr. Prader erfahren.
    «Sie meinen, es muß nicht immer der Vater das Problem sein», hat der Brenner es auf einmal ganz genau wissen wollen, «weil so ein bedeutender Schwiegervater eventuell noch ein größeres Problem ist?»
    «Ja.»
    Und nein, hat der Brenner schon im stillen mitgeredet. Aber nichts da, einfach «ja» hat der Dr. Prader gesagt, und dem Brenner ist vorgekommen, als wäre durch das fehlende Nein ein richtiges Loch in die Luft gerissen worden, und momentane Wahnvorstellung, daß es ihn in dieses Luftloch hineinreißt, praktisch Horrorfilm. Und ich muß ganz ehrlich sagen, so ist es dann wirklich gewesen.

3
    Bevor dann die Fetzen geflogen sind, hat der Brenner sich wenigstens noch einmal richtig ausschlafen können. Der hat am Sonntag morgen geschlafen, als hätte es keine Internatsklingel gegeben. Das Weckläuten verschlafen, das Morgengebetläuten verschlafen, das Frühstudium verschlafen und sogar um halb acht die Sonntagsmesse verschlafen.
    Jetzt Geheimnis dahinter wieder nur lateinisch erklärbar: Ohropax. Weil der Brenner hat am Samstag abend noch bei der Nachtapotheke vorbeigeschaut. Und da siehst du, man entkommt dem Klingeln auf dieser Welt einfach nicht, weil bei der Nachtapotheke hat er schon wieder läuten müssen. Aber wie die Apothekerin dann bei ihrem Fensterchen
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