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Silbernes Band (German Edition)

Silbernes Band (German Edition)

Titel: Silbernes Band (German Edition)
Autoren: Monika Jaedig
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war.
     
    Er hatte auch über Rúna nachgedacht. Vielleicht gab es einen Weg, ihr näherzukommen, obwohl er ihr Blut so sehr begehrte. Jetzt, da der unvergleichliche Duft nur noch eine wunderschöne Erinnerung war, schien es ihm möglich. Seine Selbstbeherrschung hatte ihn bisher noch nie im Stich gelassen, aber bei Rúna war alles anders. Trotzdem war er entschlossen, es zu versuchen. Wenn sein Vater es geschafft hatte, seine Mutter nicht zu töten, dann musste es ihm auch gelingen, Rúna zu verschonen.

Ein heimlicher Besucher

    Lautlos betrat er die Wohnung im Erdgeschoss des zweistöckigen, beige verputzten Hauses an der Njálsgata. Aus der oberen Etage hörte er das Pochen zweier Herzen, dazu die Stimmen einer Frau und eines Mannes, die sich zankten. Im Souterrain das Herz einer älteren Frau. Sie roch ganz angenehm. Aber er war nicht hier, um jemanden zu töten.

    Fionn strich über die Fingerabdrücke, die Heiðar auf der dunkelbraunen Küchentheke hinterlassen hatte, schnupperte an einem Pullover, der auf dem Sessel im Schlafzimmer lag. Die ganze Wohnung war getränkt vom Duft seines Sohnes. Birke, moosbewachsene Steine und herbstlicher Regen. Er betrachtete ein Foto, das Heiðar und seine Mutter zeigte. Es war an Heiðars Diplomfeier aufgenommen worden. Beide lächelten glücklich und stolz in die Kamera. Fionn berührte sachte die geliebten Gesichter hinter Glas. Seine heimlichen Besuche waren die einzige Möglichkeit, an ihrem Leben teilzuhaben. Als Heiðar noch klein war, reiste er regelmässig nach Island, um nachts in die kleine, schäbige Wohnung an der Miklabraut zu schleichen. Er sah ihnen beim Schlafen zu, zählte die ruhigen, regelmässigen Atemzüge und lauschte ihren Herzschlägen. Manchmal redete der kleine Heiðar im Schlaf. Die einzigen Worte, die er je aus seinem Mund hörte. Sein Gedächtnis hütete diese Worte wie einen Schatz.

    Bisher hatte er Kristíns Wunsch respektiert und sich, abgesehen von den nächtlichen Besuchen, von Heiðar ferngehalten. Sie musste bald sterben, dann war der Weg frei, und er konnte endlich eine Beziehung zu seinem Sohn aufbauen. Der Gedanke, Kristín endgültig zu verlieren war ihm unerträglich. Ein zu hoher Preis für die Möglichkeit, seinen Sohn kennenzulernen. Er war nicht bereit, diesen Preis zu zahlen, solange es einen Weg gab, den Tod zu überlisten. Fionn hatte vergeblich gehofft, sie würde sich wenigstens ein bisschen freuen ihn wiederzusehen, und wäre bereit, sich retten zu lassen, aber sie brachte ihm lediglich ihre Wut entgegen. Die Wut war über die Jahre gewachsen und hatte die Liebe für ihn verschlungen. Es schien nichts mehr davon übrig zu sein.

    Heiðar hatte mittlerweile wieder bewohntes Gebiet erreicht. Er drosselte sein Lauftempo und schlug den Weg nach Hause ein. Dort erwartete ihn eine kühle Dusche, um die verwirrenden Ereignisse des heutigen Tages einfach abzuwaschen.

    Das Raubtier meldete sich unverhofft zurück. Auf dem Gehsteig vor seinem Zuhause stiess er auf Fionns Fährte. „Fionn!“ Er rief den Namen seines Vaters in den nachtschwarzen Himmel und eilte der Duftspur entlang zum Haus. Nahm blitzschnell die Stufen zum Eingang und drückte die Türfalle. Die Haustür war ordentlich verschlossen, so wie er sie heute Morgen zurückgelassen hatte. Heiðar zog flink den Schlüssel aus der Tasche seiner Jacke, steckte ihn ins Schloss und öffnete die Tür. Fionns Duft war deutlich wahrzunehmen, doch er selbst war nicht hier. Heiðar machte sich nicht die Mühe, Schuhe und Jacke auszuziehen. Fionn war durch sämtliche Räume gegangen, hatte den Pullover auf dem Sessel angefassst, mit dem Finger über ein Foto von ihm und Kristín gestrichen. War es nur Neugier oder hegte Fionn echtes Interesse, vielleicht sogar Vatergefühle für ihn?

    Die Spur führte in die Küche. Auf dem Küchentisch stand noch die Kaffeetasse vom Frühstück. Darunter klemmte ein Zettel! Heiðar erstarrte, trat wie in Trance an den Tisch und streckte die Hand nach dem Stück Papier aus. „ Hotel Borg “ waren die Worte, die Fionn mit gestochen schöner Handschrift darauf geschrieben hatte.

Eine lang ersehnte Begegnung
     
    Heiðar versuchte so schnell wie möglich zum Viersternehaus an der Pósthússtræti zu gelangen. Glücklicherweise waren bei diesem garstigen Herbstwetter kaum Leute unterwegs, und so stand er im Nu vor dem weissen Art-Deco-Gebäude. Fionn hatte sein Kommen bestimmt bemerkt. Heiðar fühlte sich wieder wie der Gewinner einer Quizshow.
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