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Silbernes Band (German Edition)

Silbernes Band (German Edition)

Titel: Silbernes Band (German Edition)
Autoren: Monika Jaedig
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Diesmal würde er den Hauptgewinn tatsächlich zu Gesicht bekommen!
     
    Die runde automatische Tür liess ihn eintreten. An der Rezeption der angenehm beleuchteten Lobby war niemand, den er nach Fionns Zimmernummer fragen konnte. Auf eigene Faust nach ihm suchen wollte er nicht. Der stumme Fernseher, der in einer Ecke hing, sendete die Übertragung eines Handball-Spiels. Er hatte keinen Blick dafür, sah lieber durchs Fenster auf den verlassenen Austurvöllur. Ihm blieb wenig Zeit, die schöne Aussicht zu geniessen. Da waren lautlose Schritte auf der Treppe, begleitet von einem vertrauten Duft nach moosbewachsenen Steinen, Herbstwind und Regen. Kein Herzschlag. Sein eigener Pulsschlag erhöhte sich umso heftiger - er fühlte Panik aufsteigen.
     
    „Auf diesen Moment habe ich viele Jahre gewartet.“ Eine leise, aber feste Stimme mit anziehendem Klang, ein verschwommenes Spiegelbild im Fenster. Zu Heiðars Verblüffung sprach Fionn perfekt Isländisch. Höflich wäre, sich nach der Stimme umzudrehen, aber er blieb wie angewurzelt stehen, musterte angestrengt die kleingewachsenen Bäume und Sträucher im Park, als suchte er einen Ort wo er sich verstecken konnte. Er fürchtete sich davor, seinem Vater ins Gesicht zu blicken. Man liest ein Buch und entwirft ein Bild der Figuren. Dann sieht man sich die Verfilmung an und wird bitter enttäuscht. Allerdings kannte er das Buch gar nicht, höchstens den Klappentext. „Dreh dich endlich um!“, beschwor er sich selbst. Er schluckte, schloss für einen Moment die Augen und wandte sich langsam um.
     
    In diesem ersten Sekundenbruchteil, als er das Gesicht seines Vaters erfasste, glaubte er in einen Spiegel zu sehen. Heiðar blickte in saphirblaue Augen mit silbernem Schimmer. Die blassen Gesichtszüge seines Gegenübers wirkten vertraut: hohe Wangenknochen, eine gerade Nase, das markante Kinn, bloss der schöne Mund war ihm fremd. Heiðar liess den Blick über die reglose Statue schweifen. Fionns hellblondes Haar war leicht gewellt und sehr gepflegt. Er trug das Deckhaar etwas länger, ein paar vorwitzige Strähnen fielen in die hohe Stirn. Er war von ähnlicher Statur wie Heiðar, kräftig und durchtrainiert. Bei seiner Verwandlung zum Vampir musste er Anfang Zwanzig gewesen sein. Heiðar konnte sich gut vorstellen, dass seine Mutter Gefallen an ihm gefunden hatte.
     
    „Darf ich dich berühren, mein Sohn?“ Fionn trat vorsichtig einen Schritt näher. „Hab keine Angst. Ich werde dir nichts tun.“ Heiðar fragte sich, weshalb Fionn das sagte. Üblicherweise war er selbst das Monster und musste aufpassen, dass er niemanden verletzte. Er brachte kein Wort heraus. Diese Szene hatte er niemals geprobt. Sie stand nicht im Drehbuch seines Lebens, war heute erst hastig hinzugefügt worden. Mehr als ein stummes Nicken brachte er nicht zustande, konnte ihn bloss ansehen und glaubte, sich niemals mehr rühren zu können. Sein Vater trat dicht an ihn heran und streckte langsam die rechte Hand nach seinem Gesicht aus. Heiðar spürte, wie sich die weissen Finger beinahe scheu an seine Wange legten und dort innehielten. Die kühlen Fingerspitzen ertasteten die Wärme und Struktur seiner Haut. Seltsamerweise fühlte sich Fionns Hand überhaupt nicht tot an. Obwohl das Herz seit langem stumm war, kroch kaltes Blut durch die Adern. Es floss unheimlich langsam, dickflüssig und klebrig. Umso munterer spürte Heiðar sein eigenes Blut unter der sanften Berührung hindurchfliessen. Sie verursachte ein seltsames warmes Kribbeln, das sich noch verstärkte, als Fionn ganz leicht über seine Wange strich. Heiðar liess es geschehen. Er blieb in seiner Reglosigkeit gefangen und lauschte auf seinen eigenen Herzschlag.
     
    Für Fionn war es einer der bedeutendsten Augenblicke in seinem langen Dasein. 32 Jahre lang hatte er diesem Wunsch widerstanden. Bei jedem seiner heimlichen Besuche beschwor er sich, nicht die Hand nach dem Kind auszustrecken. Heiðar im Schlaf zu betrachten, lautlos mit ihm zu sprechen und seinem Herzschlag zu lauschen war das Äusserste, was er sich erlauben durfte. Unerheblich, dass sein Sohn längst erwachsen war, als er endlich die Gelegenheit bekam, die warme, lebendige Haut zu berühren. Das tiefe Gefühl der Liebe zu seinem Geschöpf war dasselbe. Ob er nun über die weichen Bartstoppeln strich, die nur er deutlich sehen konnte, oder ob er den kleinen Heiðar bei dessen Geburt aus dem Schoss seiner Mutter entgegengenommen hätte: Es war nichts als reine,
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