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Silbernes Band (German Edition)

Silbernes Band (German Edition)

Titel: Silbernes Band (German Edition)
Autoren: Monika Jaedig
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unermessliche Liebe, wie sie nur ein Unsterblicher empfinden konnte.
     
    „Gehen wir in meine Suite, dort können wir uns ungestört unterhalten.“ Fionn blickte ihn erwartungsvoll an. Die Antwort war ein weiteres Nicken. „Komm.“ Heiðar zwang sich, die Füsse zu bewegen und ihm zu folgen. Sie betraten den Lift, Fionn drückte den Knopf für die oberste Etage, die Aufzugstüren schlossen sich und die Kabine setzte sich sirrend in Bewegung. Sie hielten Abstand und schwiegen, wie das typisch ist, wenn Fremde gemeinsam im Aufzug fahren. Anders als Menschen scheuten sie nicht vor Blickkontakt zurück, sondern musterten einander eingehend. Fionn war gut gekleidet: Zum hellblauen Streifenhemd trug er einen roten Kaschmirpullover mit V-Ausschnitt und beige Chinos mit Bügelfalte. Heiðar registrierte, wie sich die stumme Brust mit schöner Regelmässigkeit hob und senkte, als würde er ganz normal atmen.
     
    Wie langsam dieser Lift doch fuhr! Heiðar konnte kaum erwarten, dass sie endlich oben ankamen. Die enge Aufzugskabine bot nicht genügend Raum für die vielen Emotionen, die aus seinem Innern drängten. Gefühle, die endlich befreit werden wollten. Der Lift stoppte, die Tür öffnete sich. Für Heiðar war es am einfachsten, sich der Führung seines Vaters anzuvertrauen. Zum ersten Mal in seinem Leben. Er folgte ihm durch den schmalen teppichbezogenen Hotelflur, bis Fionn vor einer der Türen stehenblieb. Er zückte seinen Badge und steckte ihn in den Kartenleser, der an der Tür befestigt war. Ein grünes Licht leuchtete auf, und sie konnten eintreten. Heiðars Blick fiel in ein elegant eingerichtetes Wohnzimmer, von dem zwei Türen abgingen. Er streifte rasch die Schuhe ab und hängte seine Jacke an die Garderobe im Eingangsbereich.
     
    „Bitte setz dich.“ Fionn deutete auf einen mit creméfarbenem Leder bezogenen Sessel. Heiðar trat etwas zögerlich ins Wohnzimmer und nahm Platz. “Darf ich dir etwas anbieten? Bist du hungrig oder durstig?” Es reichte bloss für ein improvisiertes Kopfschütteln. Wo war sein Text? Von seiner Warte aus schien es ein Stummfilm zu bleiben. Er konnte seinen Vater bloss anstarren, als müssten seine Augen nachholen, was sie 32 Jahre lang nicht sehen durften.
     
    Fionn setzte sich ihm gegenüber aufs Sofa. „Bitte verzeih mir, dass ich ohne dein Wissen deine Wohnung betreten habe. Es war nicht das erste Mal. Seit du geboren wurdest, habe ich dich regelmässig besucht. Ich habe mich über das Verbot deiner Mutter hinweggesetzt, daher weiss ich einiges über dein Leben. Du hast erfolgreich studiert und arbeitest heute als Lehrer. Wie ich, liebst du Bücher. Von 1998 bis 2004 warst du Mitglied der isländischen Handball-Nationalmannschaft. Ich bin sehr stolz auf dich, mein Sohn.“
     
    Fionns ruhige Stimme brach das Eis. „Erzähl mir von dir. Wer bist du?“ Das Textblatt war aufgetaucht, Heiðar nicht länger der Stummfilmstar.
     
    Fionn lehnte sich entspannt zurück und blickte in eine weit entfernte Zeit: „Ich wurde im Januar 1680 in Irland geboren, in einem kleinen Dorf an der Westküste.“ Heiðar nahm es staunend zur Kenntnis. „Du bist also 330 Jahre alt? Und ich bin zur Hälfte irisch?“ – „Ganz genau. Wenn du magst, bringe ich dir meine Muttersprache bei. Bestimmt hast du mein Talent für Sprachen geerbt, dann wird es dir leicht fallen.“ – „Das habe ich. Ich liebe Sprachen.“ – „Dann lass uns gleich damit anfangen. Ich erzähle dir meine Lebensgeschichte in gälischer Sprache. Frag einfach nach, wenn du etwas nicht verstehst.“ Heiðar nickte und lauschte gespannt Fionns Worten: „Meine Familie war nicht reich, aber wir hatten immer genug zu essen. Auf unserer Farm hielten wir Schafe, dazu ein paar Kühe und Pferde.“
     
    Fionn machte eine Pause. In Heiðars Gesicht stand ein Ausdruck von Verblüffung. „Ich kann dir problemlos folgen, ich kenne diese Sprache! Wie ist das möglich?“ – „Bevor du geboren wurdest, habe ich sehr oft Gälisch mit dir gesprochen. Und auch später, bei meinen nächtlichen Besuchen. Du hast die Sprache im Unterbewusstsein erworben.“ - „Tatsächlich? Ich meine... Ich kann einige Fremdsprachen und habe mich nie schwer getan, sie zu lernen. Aber dass es so leicht geht – cool!“ Er fuhr sich grinsend durchs Haar. „Soll ich weitererzählen?“, fragte Fionn sichtlich amüsiert. Heiðar gab seine Antwort in Gälisch: „Auf jeden Fall! Ich will alles von dir wissen.“ Fionn hob anerkennend die
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