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Silbernes Band (German Edition)

Silbernes Band (German Edition)

Titel: Silbernes Band (German Edition)
Autoren: Monika Jaedig
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Besuch da. Ein blonder Mann, etwa in deinem Alter. Er sagte, er gehöre zur Familie, sprach mit englischem Akzent...“

    Ihn durchzuckte ein eiskalter Schauer. War es möglich, dass er sie besucht hatte? Birna schürzte abwartend die Lippen. Heiðar musste antworten – aber was? Er räusperte sich, um Zeit zu schinden.

    „Jaa... Das war vermutlich mein Cousin, er lebt schon lange im Ausland.“ Die Falte auf Birnas Stirn wurde noch etwas tiefer: „Deine Mutter hat sich schrecklich aufgeregt, keine Ahnung, was da los war. Ich wollte es dir auf jeden Fall sagen, damit du vorgewarnt bist. Sie ist immer noch ziemlich durcheinander.“ – „War er lange hier, ich meine, wann ist er gegangen?“ - „Er war nur kurz da, vielleicht eine Viertelstunde, und er ist so gegen halb Vier wieder gegangen“, entgegnete sie und musterte ihn neugierig. „Danke, Birna. Ich seh’ gleich nach ihr.“ Sie schenkte ihm nochmals ein Strahlen und ging zurück an ihre Arbeit.

    Keine Zeit zu verlieren. Er musste unbedingt wissen, ob sein Vater hier gewesen war! Ob es eine Möglichkeit gab, ihn endlich einmal zu treffen. Er hatte ein Recht, alles zu erfahren! Wieviel Zeit blieb Kristín, ihm Dinge über seinen Vater zu erzählen?

    Birna stand am Ende des Flurs vor einem fahrbaren Tischchen und schob Blumenvasen hin und her. Sie beobachtete ihn, also konnte er unmöglich einfach verschwinden. Auf keinen Fall durfte er sich im Beisein von Menschen in seiner natürlichen Geschwindigkeit bewegen. Ob echte Vampire schneller unterwegs waren als er? Und deren Sinne besser ausgebildet als bei ihm? Diese Dinge brachte er wohl niemals in Erfahrung, wenn sich Kristín weiterhin weigerte, über seinen Vater zu sprechen. Er wusste noch nicht einmal seinen Namen, geschweige denn, wie er aussah, wo er lebte, ob er überhaupt noch lebte. Für seine Mutter schien er nicht zu existieren, es war, als ob Heiðar gar keinen Vater hatte. Hätte sie nicht so grosse Angst davor gehabt, dass Heiðar eines Tages einen Menschen töten könnte, dann hätte sie ihm vermutlich gar nie von seinem geheimnisvollen Vater erzählt.

    Endlich war er bei der hellgrünen Tür zu ihrem Zimmer angelangt. Er klopfte kurz, atmete geräuschvoll aus und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten.

    Seine Mutter lag in einem viel zu grossen Krankenhausbett, das Kopfteil hochgestellt, damit sie es etwas bequemer hatte. Sie lächelte schwach, als sie ihn erkannte. Schmal und zierlich, zerbrechlich wie ein Vögelchen, die Haut blass und wächsern. Die dunkelbraunen, mit silbernen Strähnen durchsetzten Locken hatte sie durch die Chemotherapie längst verloren. Heute trug sie ihre freche rote Mütze.

    Im Krankenzimmer roch es nach moosbewachsenen Steinen, Herbstwind und Regen. Bloss ein schwacher Hauch, vermischt mit dem Geruch nach Desinfektionsmitteln, Krankheit, Blut und Tod. Heiðar erinnerte sich an die vielen Male, da er morgens nach dem Aufwachen denselben Geruch wahrgenommen hatte. Dieser Duft war ein Teil von ihm selbst, deshalb hatte er ihm nie die nötige Aufmerksamkeit geschenkt.

    „Heiðar, mein Liebling! Schön, dass du vorbeikommst!“ – „Hallo Mama, wie geht’s dir heute?“ Er trat ans Bett, beugte sich zu ihr hinab und küsste sie vorsichtig auf die Wange. Kristín hob die schwachen Arme und strich ihm liebevoll übers Haar. „Setz dich. Erzähl, was hast du heute gemacht?“, bat sie und klopfte leicht auf die Matratze. Nichts deutete darauf hin, dass sie sich aufgeregt hatte, natürlich wollte sie nicht über den geheimnisvollen Besucher sprechen.

    Sie wartete darauf, dass er sich zu ihr setzte, aber er brauchte etwas Abstand. Seine ernste Miene verunsicherte sie sichtlich, doch darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. „Birna macht sich Sorgen um dich. Sie hat mir erzählt, dass du heute Nachmittag Besuch von einem jungen Mann hattest und dass du dich deshalb schrecklich aufgeregt hast.“

    Kristín stiess einen erstickten Laut aus und wandte unwillig den Kopf ab. Er fasste behutsam nach ihrer Hand. „Bitte Mama, sprich mit mir! Du musst mir sagen, wer dich besucht hat!“ Da wo sein Herz sass, stach es in der Brust. Viel zu lange hatte er Verständnis gezeigt für ihre Verdrängungsstrategie. Sie waren beide Opfer dieser Verdrängung. Kristín musste jahrelang ihre Gefühle verleugnen und abwürgen. Ihr Herz wurde dabei langsam zerfressen, nun war es schwach und müde. Er wusste lange Zeit nicht, was er war. Die eine Hälfte seiner
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