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Silbermantel

Titel: Silbermantel
Autoren: Guy Gavriel Kay
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es nie geschafft, sein orthodoxes Religionsverständnis mit der Beziehung seines Sohnes zu der Katholikin Jennifer in Einklang zu bringen – und hatte immer wegen dieses Unvermögens mit sich gehadert. Deshalb hatte Kevins Vater Jennifer während der kurzen Zeit ihrer Beziehung und danach immer wie ein kostbares Juwel behandelt.
    »Es geht ihr gut. Und Kim auch.«
    »Aber Paul nicht?« Kevin blinzelte. »O Abba, du bist zu gerissen für mich. Warum sagst du das?«
    »Wenn es ihm gut ginge, wärst du danach noch mit ihm ausgegangen. Wie du es früher immer getan hast. Du wärst noch nicht zu Hause. Ich müsste meinen Tee alleine trinken, ganz alleine.« Das Blitzen in seinen Augen strafte den wehmütigen Satz Lügen.
    Kevin lachte laut auf, unterbrach sich aber, als er bemerkte, wie sich ein bitterer Unterton in sein Lachen einschlich.
    »Nein, es geht ihm nicht gut. Aber ich scheine der einzige zu sein, der ihn darauf anspricht. Ich glaube, ich gehe ihm langsam auf die Nerven. Das gefällt mir gar nicht.«
    »Manchmal«, sagte sein Vater, während er die Teegläser füllte, »ist das die Aufgabe eines Freundes.«
    »Aber niemand anders scheint zu glauben, dass etwas nicht in Ordnung sei. Sie reden nur davon, dass es Zeit braucht.«
    »Es braucht wirklich seine Zeit, Kevin.«
    Kevin machte eine ungeduldige Handbewegung. »Das weiß ich doch. So dumm bin ich nicht. Aber ich kenne ihn auch, ich kenne ihn sehr gut, und er ist … Da ist noch etwas anderes, und ich weiß nicht, was es ist.«
    Einen Moment lang schwieg sein Vater. »Wie lange ist es jetzt her?« fragte er schließlich.
    »Zehn Monate«, erwiderte Kevin kurz. »Letzten Sommer.«
    »Ach!« Sol schüttelte seinen schweren, immer noch gutaussehenden Kopf. »Was für eine schreckliche Sache.«
    Kevin beugte sich vor. »Abba, er ist so verschlossen. Allen gegenüber. Ich bin nicht … Ich habe Angst, dass etwas passiert. Und ich kann offenbar nicht zu ihm durchdringen.«
    »Versuchst du es vielleicht zu offensichtlich?« fragte Sol Laine behutsam.
    Sein Sohn ließ sich in den Stuhl zurücksinken. »Vielleicht«, räumte er ein, und der alte Mann konnte erkennen, wie schwer ihm die Antwort fiel. »Aber es tut weh, Abba, er ist ganz verdreht.«
    Sol Laine hatte spät geheiratet. Seine Frau war an einem Krebsleiden verstorben, als Kevin, ihr einziges Kind, gerade fünf Jahre alt war. Nun betrachtete er seinen gutaussehenden, wohlgeratenen Sohn und spürte dabei einen Stich in der Herzgegend. »Kevin«, sagte er, »du wirst lernen müssen – und das wird dir schwer fallen –, dass du manchmal einfach nichts ausrichten kannst. Manchmal kann man nichts tun.«
    Kevin trank seinen Tee aus. Er küsste seinen Vater auf die Stirn und ging zu Bett, erfüllt von einer Traurigkeit, die ihm neu war, und einem Gefühl unbestimmter Sehnsucht, das ihm wohlbekannt war.
    Einmal wachte er in der Nacht auf, wenige Stunden, ehe Kimberly das gleiche geschah. Er griff nach einem Notizblock, den er neben dem Bett liegen hatte, kritzelte eine Zeile darauf und schlief wieder ein. Wir sind die Summe unserer Sehnsüchte, hatte er geschrieben. Aber Kevin war ein Songschreiber, kein Dichter, und er fand nie Verwendung für diese Zeile.
    *
    Auch Paul Schafer ging an jenem Abend zu Fuß nach Hause, die Avenue Road nach Norden und zwei Häuserblocks hinein in die Bernard Street. Er ging jedoch langsamer als Dave, und aus seinen Bewegungen hätte man nicht auf seine Gedanken oder seine Stimmung schließen können. Er hatte die Hände in den Taschen, und zwei- oder dreimal warf er, wo die Straßenbeleuchtung nicht so hell war, einen Blick nach oben, wo die aufreißende Wolkendecke den Mond abwechselnd freigab und verdeckte.
    Erst vor seiner Haustür kam wieder Leben in sein Gesicht doch dabei handelte es sich um nichts weiter als um eine vorübergehende Unentschlossenheit, wie bei einem, der sich überlegt, ob er lieber gleich ins Bett oder vorher noch einmal um den Block gehen soll.
    Aber Schafer ging ins Haus und schloss die Tür zu seinem Apartment im Erdgeschoß auf. Er machte im Wohnzimmer die Lampe an, goss sich einen Drink ein und nahm das Glas mit zu einem tiefen Lehnsessel. Wieder wirkte das bleiche Gesicht unter dem dunklen Haarschopf ausdruckslos. Und als sich endlich um Mund und Augen herum wieder etwas regte, war das erneut nur eine Art Unentschlossenheit, die jedoch rasch fortgewischt wurde, als er die Zähne zusammenbiss.
    Dann beugte er sich zur Stereoanlage hinüber und legte
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