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Sieh mir beim Sterben zu (German Edition)

Sieh mir beim Sterben zu (German Edition)

Titel: Sieh mir beim Sterben zu (German Edition)
Autoren: P. J. Tracy
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beim Aufwachen, denn wenn sie ehrlich war, lebte sie inzwischen ein ganz wunderbar normales Leben. Aufstehen, anziehen, dem Hund sein Fressen geben, frühstücken, zur Arbeit gehen. So sah der Alltag von Hunderten und Tausenden Menschen überall in dieser Stadt aus, und wenn auch manche von ihnen bewaffnet sein mochten, war sie doch nie jemand anderem begegnet, der ständig Reitstiefel getragen und Angst gehabt hätte, sie auszuziehen.
    «Ich bin richtig albern, Charlie, weißt du das?»
    Beim Klang ihrer Stimme fing der Hund neben ihr an, mit dem ganzen Körper zu wedeln. Der kurze Stummel, der von seinem Schwanz noch übrig war, erschien ihm wohl nicht ausdrucksstark genug.
    Was immer Charlie seinen Schwanz und seinen Mut gekostet haben mochte, war schon damals lange her gewesen, als Grace ihn auf der Straße gefunden hatte, doch er war noch sehr viel paranoider als sie, falls das überhaupt möglich war. Ganz gleich, wie dringend das hündische Bedürfnis und wie groß die Aufregung auch sein mochten, er trat immer nur zögernd aus der Tür, voller Vorsicht, die Nase in der Luft, um mögliche Gefahren rechtzeitig zu wittern. Auch darin waren Frauchen und Hund einander unglaublich ähnlich. Einzige Ausnahme war die Hintertür von Graces Haus: Sie führte in einen kleinen rechteckigen Garten, der ringsum von einem massiven, zweieinhalb Meter hohen Holzzaun umgeben war. Das war ein sicherer Ort, lediglich von einer einsamen Magnolie bewohnt, die Grace mit dem Gartenschlauch und Charlie mit seinem ganz persönlichen Gießkännchen wässerte.
    Morgens allerdings verließen beide das Haus durch die Vordertür, gingen zur Garage, stiegen in den Range Rover und machten sich auf den Weg ins Büro von Monkeewrench, das sich im Obergeschoss von Harley Davidsons Anwesen an der Summit Avenue befand – dem besten Ort der Welt nach Ansicht des Hundes.
    Es war erst die dritte Juniwoche, und in normalen Jahren spürte man um diese Zeit kaum einen Hauch von Sommer, doch Minnesota hatte es bereits auf eine Rekordzahl glühend heißer, trockener Tage gebracht, der Wasserstand der Flüsse war niedrig, und das blühende Saatgut verdorrte auf den staubigen Feldern. Jeder Bauer im ganzen Bundesstaat wusste, dass der Kreislauf aus Dürre und Flut eine zwar problematische, ansonsten aber ganz gewöhnliche Angelegenheit war, mit der die Menschen, die vom Ackerbau lebten, seit Jahrhunderten immer wieder rechnen mussten; doch Medienleute waren Stadtbewohner, und jede extreme Wetterlage erhöhte die Einschaltquoten, und so prophezeite bald jede Nachrichtensendung den bevorstehenden Weltuntergang. Auch die Vorstädter sprangen eilig auf diesen Zug auf, weil die Wassersparmaßnahmen ihr Wiesen-Rispengras vertrocknen ließen und die Tempolimits auf Flüssen und Seen ihnen den Spaß an den Hochgeschwindigkeitsbooten verdarben.
    Normalerweise gab es kein Wetter, bei dem die Einwohner von Minnesota zu Hause blieben. Sie standen draußen auf der Straße, um den Tornado zu filmen, der ihre Häuser bedrohte, sie hackten Löcher ins Eis, um in zugefrorenen Seen zu baden, und im Sommer zogen sie alles aus, was der puritanische Anstand erlaubte, und joggten um die Seen in der Innenstadt. Doch in diesem Jahr war alles anders. Die Jogging- und Fahrradstrecken waren fast immer leer, es gab keine Tornados und auch sonst kein sommerliches Naturschauspiel mit Blitz und Donner, und überall in der Stadt keuchten die Klimaanlagen wie die Atemzüge eines gewaltigen Ungeheuers.
    Charlie winselte auf dem Rücksitz von Grace MacBrides Range Rover, als sie in die Summit Avenue einbogen.
    «Gleich sind wir da», sagte sie zu ihm und fuhr ein bisschen schneller als erlaubt. Die gotischen Türmchen von Harley Davidsons rotem Backsteinanwesen zwei Straßenecken weiter waren bereits in Sicht. Als Grace das Tor durchquert hatte und vor dem Säulengang hielt, hatte dort gerade eine schwarze Limousine ihre kostbare Fracht in Gestalt von Annie Belinsky abgesetzt. Sie stand bereits vor der gewaltigen hölzernen Eingangstür.
    Annie ließ sich immer mit Limousinen chauffieren, vor allem im Sommer, wenn meist durchtrainierte, braungebrannte Collegestudenten am Steuer saßen. Sie hätte mit Leichtigkeit jeden einzelnen von ihnen verführen können, doch das tat sie nicht. Sie schaute sie einfach nur gern an.
    An diesem Morgen gab Annie die etwas üppig geratene Heldin eines Fitzgerald-Romans in Spitzenbluse und knöchellangem Leinenrock. Auf ihrem dunklen Bubikopf saß ein
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