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Sieben Jahre

Sieben Jahre

Titel: Sieben Jahre
Autoren: Peter Stamm
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Verabredung. Von da an trafen wir uns zum Lernen in der Bibliothek.
    Es war noch nicht sieben, als ich nach Hause kam. Im Studentendorf war es still, und die Gassen waren menschenleer. Ich stellte die Kaffeemaschine an und duschte, dann machte ich mich auf, ohne ein Ziel zu haben. Ich war euphorisch und musste mich bewegen. Ich ging Richtung Innenstadt und dachte an die Zukunft. Alles schien möglich zu sein, nichts würde mich aufhalten können. Ich würde eine Stelle finden in einem großen Architekturbüro, später würde ich mein eigenes Büro gründen und große Bauten verwirklichen auf der ganzen Welt. Ich ging durch die Stadt und schaute in die Schaufenster der Autohändler und sah mich schon hinter dem Steuer eines der luxuriösen Wagen sitzen und von Baustelle zu Baustelle fahren.
    Ich ging in die Bibliothek und las in der Zeitung einen längeren Artikel über die Flüchtlingswelle aus der DDR , und irgendwie passte auch das zu meinem Gefühl von Freiheit und Aufbruch. Alles schien möglich zu sein, auch wenn der Kommentator noch zur Vorsicht mahnte und nicht an einen Zusammenbruch der DDR glaubte. Mittags aß ich ein Sandwich, dann zog ich weiter, ging durch die Stadt, trank Kaffee, kaufte mir eine Hose und ein paar weiße T-Shirts. Als ich gegen Abend ins Studentendorf zurückkam, war ich müde und zufrieden, wie nach einem langen Arbeitstag.
    Ich war früh schlafen gegangen, trotzdem erwachte ich erst gegen Mittag. Das Telefon weckte mich. Es war Sonja. Sie fragte, was ich machte. Nichts, sagte ich, ich erhole mich von den Strapazen der Diplomarbeit. Wir verabredeten uns zum Mittagessen in der Nähe der Bibliothek.
    Meine Beziehung zu Sonja war ziemlich kompliziert. Sie war mir schon am ersten Tag des Studiums aufgefallen, aber kennengelernt hatte ich sie erst durch Rüdiger. Wir verstanden uns gut und fingen irgendwann an, zusammen zu lernen. Sie hatte mehr Talent als ich und war viel fleißiger. Dabei war sie großzügig und hätte nie wie Ferdi und ich die Arbeit anderer schlechtgemacht. Sie war nicht unkritisch, aber sie blieb immer fair und verpackte ihre Kritik so, dass man das Gefühl hatte, sie mache einem ein Kompliment. Bei den Professoren war sie ebenso beliebt wie bei den Studenten. Sie hatte die Fähigkeit, Menschen zu bewundern, und wurde vielleicht deshalb selbst bewundert. Sie und Rüdiger schienen perfekt zusammenzupassen. Sie wirkten wie ein Ehepaar, wenn sie Partys veranstalteten und uns in die Häuser ihrer Eltern einluden, als gehörten sie ihnen schon. Bei einer dieser Partys hatte ich Alice kennengelernt, mit der ich einige Monate zusammen war. Sonja und ich hatten uns dann ungefähr zur selben Zeit, mitten im Prüfungsstress, von unseren Partnern getrennt, und vielleicht kamen wir uns auch dadurch näher. Meine Trennung von Alice war hässlich gewesen, und Sonja, die mit Alice befreundet war, hatte sich von ihr nächtelang anhören müssen, was für ein Schwein ich sei und was ich ihr angetan hätte. Erstaunlicherweise schien sie das nicht gegen mich aufzubringen. Im Gegenteil, in dieser Zeit freundeten wir uns richtig an. Am Anfang dachte ich, Sonja wollte mich und Alice wieder zusammenbringen, bis sie sagte, Alice dürfe nichts von unseren Treffen wissen, es würde ihre Freundschaft zerstören. Dass Rüdiger davon wisse, sei kein Problem, sie hätten sich in gegenseitigem Einvernehmen und ohne böse Worte getrennt. Wenn man die beiden zusammen sah, hätte man glauben können, sie seien immer noch ein Paar. Ich fragte Sonja, was der Grund ihrer Trennung gewesen sei. Ach, sagte sie und machte eine vage Handbewegung.
    Manchmal spielte ich mit dem Gedanken, mich in Sonja zu verlieben, aber so naheliegend es gewesen wäre, so unangebracht schien es. Vielleicht kannten wir uns schon zu gut, war unsere Freundschaft schon zu gefestigt. Einmal machte ich eine Anspielung. Das wäre doch ideal, sagte ich, wenn Alice mit Rüdiger ginge und wir zwei miteinander. Stell dir das vor!, sagte Sonja lachend. Sie hatte recht. Ich konnte sie mir nicht als meine Freundin vorstellen, nicht im Bett, noch nicht einmal nackt. Sie war sehr schön, aber sie hatte etwas Unnahbares. Ein wenig kam sie mir vor wie jene Puppen, deren Kleider festgenäht und ein Teil ihres Körpers sind. Obwohl, sagte Sonja, Rüdiger und Alice wären ein schönes Paar. Wir beide doch auch. Es würde Alice umbringen, sagte Sonja. Außerdem habe ich im Moment ohnehin keine Zeit für eine Beziehung. Erst müsse sie sich um eine
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