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Sieben Jahre

Sieben Jahre

Titel: Sieben Jahre
Autoren: Peter Stamm
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Freundin dort. Sie ist nicht meine Freundin, sagte ich.
    Ich musste einmal um die Kirche herumgehen, bis ich den Laden fand. Er war in einem Nebengebäude untergebracht, in einer schattigen Nische. Ein paar Stufen führten hinauf zum Eingang, neben dem in einem kleinen Schaufenster einige Kerzen standen und ein paar vergilbte Traktätchen lagen. »Christ und Fernsehen«, »Ich hebe meine Augen zu Dir«, »Der ewige Bund« und Ähnliches.
    Ich schaute durch die Glastür, aber niemand war zu sehen. Als ich eintrat, ertönte ein schrilles Schellen. Es dauerte einen Moment, dann bewegte sich der schwere Vorhang an der Rückseite des Raums. Das Hinterzimmer war von der Sonne hell erleuchtet, und für einen Augenblick wirkte Iwona, umgeben von diesem Licht, wie eine Erscheinung. Dann fiel der Vorhang in ihrem Rücken zu und der Raum lag wieder im Zwielicht.
    Iwona schaute mich aufmerksam an, aber ohne ein Zeichen des Erkennens. Sie setzte sich auf einen Stuhl, der hinter der Theke stand, und beschäftigte sich damit, einige Stapel mit Heiligenbildchen gerade zu rücken. Ich schaute mir die Bücher an, die in zwei Regalen nach Themen geordnet standen: Mission, Hilfe im Glauben, Ehe und Familie, Sekten und andere Religionen. Es gab sogar eine Rubrik Heiteres und Besinnliches. Ich zog ein Büchlein mit klerikalen Witzen aus dem Regal. Auf dem Umschlag war die Zeichnung eines Löwen, der vor einem Priester kniete, die Tatzen zum Gebet gefaltet. Ich stellte das Buch zurück und drehte mich zu Iwona um. Noch immer beachtete sie mich nicht. Ich ging zur Theke und schaute auf sie herab, bis sie die Augen hob. Mein Bild von ihr hatte sich in der Erinnerung verändert, als ich sie jetzt vor mir sah, fragte ich mich, wie es möglich war, dass ich sie gestern so begehrt hatte. Ihr Blick war ängstlich, beinahe unterwürfig, und sie war mir von neuem unangenehm. Ohne ein Wort verließ ich den Laden. Nach einigen Metern wandte ich mich um und schaute zurück. Iwona stand dicht an der Glastür, sie wirkte befriedigt, vielleicht auch nur teilnahmslos, als sei es ihr vollkommen gleichgültig, ob ich gehe oder bliebe, als wisse sie schon, dass ich wiederkommen würde.
     
    Ich ging nach Hause und nahm noch einmal meine Diplomarbeit hervor. In drei Tagen würde ich sie vorstellen müssen, und es war mir, als hätte ich schon wieder alles vergessen, was ich mir in den vergangenen Monaten überlegt hatte. Ich blätterte durch die Skizzen und Pläne. Rüdiger hatte recht gehabt, das Projekt war epigonal, es hatte keine Kraft und keine Eigenständigkeit. Ich hatte während der Arbeit eine unbestimmte Energie verspürt, eine Schaffenskraft, aber ich hatte nicht gewusst, in welche Richtung ich sie lenken sollte. Und ohne es recht zu merken, war ich meinem Vorbild gefolgt. Dabei waren es gar nicht Rossis Bauten, die mich beeindruckt hatten, es waren seine Polemiken gegen die Moderne, seine Melancholie, die vielleicht nichts anderes war als Feigheit. Sonja hatte sich oft über meine altmodische Vorliebe lustig gemacht. Sie sagte, Rossis Arbeiten sähen aus, als habe er mit den Bauklötzen seiner Kinder gespielt.
    Meine Arbeit kam mir schal und phantasielos vor, trotzdem war ich ziemlich sicher, dass ich bestehen würde. Aber es kränkte mich, nur mittelmäßig zu sein und mir eingestehen zu müssen, dass ich nicht das Genie war, das zu sein ich mir immer erträumt hatte. Unwillig legte ich die Papiere weg. Ich dachte an Iwona und versuchte, ihr Gesicht aus der Erinnerung zu zeichnen, aber es gelang mir nicht. Ich rief bei Sonja an, sie war nicht da. Nachdem ich eine Kleinigkeit gegessen hatte, ging ich spazieren. Ich mied die Orte, an die ich sonst mit Rüdiger und Ferdi ging, ich hatte keine Lust, ihnen zu begegnen, aus Angst, sie würden mir unangenehme Fragen stellen. Ich ging durch die Stadt und kam mir sehr einsam vor. Mit Schrecken wurde mir bewusst, dass Iwona der einzige Mensch war, den ich sehen mochte.
    Es dauerte einige Zeit, bis ich das Studentenwohnheim gefunden hatte. Die Klingeln waren nur mit Nummern beschriftet, und ich hatte keine Ahnung, welche Iwona gehörte. Eine Weile stand ich vor dem Haus herum und rauchte. Endlich kam eine junge Frau heraus, und ich schaffte es, den Fuß unauffällig in die Tür zu klemmen, bevor sie zuschlug. Ich wartete, bis die Frau ihr Rad aufgeschlossen hatte und weggefahren war.
    Das Gebäude musste aus den fünfziger Jahren stammen, die Böden waren grau gefliest, das Weiß der Wände war vergilbt und
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