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Sieben Jahre

Sieben Jahre

Titel: Sieben Jahre
Autoren: Peter Stamm
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dämmerte es, der Raum lag im Zwielicht. Mein Kopf tat weh, und ich musste dringend auf die Toilette. Mein Oberkörper war nackt, Iwona trug alle ihre Kleider, nur die obersten Knöpfe ihrer Bluse waren geöffnet.
    Während ich ins Waschbecken urinierte, öffnete ich das Spiegelschränkchen, das vollgestopft war mit Shampoomustern und Medikamenten, deren Namen ich nicht kannte und von denen ich nicht wusste, wozu sie gut waren. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Iwona wach war und mich beobachtete. Ich sagte, ich gehe jetzt. Da stand sie auf und trat zu mir und flüsterte mir ins Ohr, ich liebe dich. Es klang nicht wie eine Liebeserklärung, eher wie eine Feststellung, an der nicht zu rütteln ist. Ich wandte mich ab und suchte nach meinem Hemd und meinem Unterhemd. Iwona schaute mir beim Anziehen zu, als sei es ihr Recht, in ihren Augen glaubte ich etwas wie Stolz zu sehen. Ich ging ohne ein weiteres Wort.
    Vor dem Wohnheim versuchte ich mich zu orientieren. Ich erinnerte mich nicht mehr, aus welcher Richtung wir gestern Nacht gekommen waren. Die Vögel in den Bäumen sangen unglaublich laut, einen Moment lang hatte ich den absurden Gedanken, sie würden gleich über mich herfallen. Ich fragte mich, was ich hier machte und wie es so weit hatte kommen können. Die ganze Angelegenheit war mir peinlich, und ich hoffte nur, dass mich niemand mit Iwona hatte weggehen sehen. Zugleich war ich in seltsamer Hochstimmung. Alles, was ich bisher mit Frauen erlebt hatte, erschien mir wie ein Spiel im Vergleich mit der vergangenen Nacht. Mit Iwona hatte ich mich erwachsen gefühlt, verantwortlich und dabei ganz frei.
     
    Ich wohnte in einem der kleinen Bungalows im Olympiadorf. Das Häuschen war winzig, aber alle meine Freunde, die in WGs oder in Studentenwohnheimen lebten, beneideten mich darum. Hunderte von Bungalows lagen an schmalen Gassen aufgereiht mitten zwischen einem Gebirge von Hochhäusern und bildeten wirklich eine Art Dorf. Sie waren für die Olympiade als Unterkünfte für Sportler gebaut worden. Seit dem Ende der Spiele wurde die Anlage von Studenten bewohnt. Ich bezahlte dreihundert Mark für ein Häuschen mit vierundzwanzig Quadratmetern Wohnfläche. Im unteren Stock gab es einen begehbaren Schrank, eine kleine Küche und die legendäre Duscheinheit Nizza, ein Fertigbad aus Kunststoffelementen, in dem man sich fühlte wie in einem Raumschiff. Im oberen Stock war das Arbeits- und Schlafzimmer. Eine Wand des Arbeitszimmers war komplett verglast, und davor war eine kleine Terrasse. Um Platz zu sparen, war über der Treppe ein Hochbett eingebaut. Im Dorf kursierten Geschichten von Abstürzen während wilder Liebesnächte, aber vermutlich waren das nur Studentenphantasien.
    Die Bungalows waren schnell gebaut worden und nicht in bestem Zustand. Die Fenster waren nicht dicht, trotzdem musste man dauernd lüften, weil sich sonst Schimmel bildete im Wandschrank. Das Studentenwerk hatte uns Farbe zur Verfügung gestellt, um die Fassaden zu bemalen. Manche hatten richtige Kunstwerke geschaffen, andere schmierten politische Parolen an die Wände. Einige der Bilder sahen aus wie Kinderzeichnungen.
    Es gab im Dorf oft Feste und spontane Grillpartys. Besonders im Sommer war es laut, und es war schwierig, sich auf das Lernen zu konzentrieren. Aus den benachbarten Bungalows hörte man jedes Geräusch. Neben mir wohnte ein Germanistikstudent. Ich kannte kaum seinen Namen, aber ich wusste alles über sein Liebesleben und bekam jeden Streit und jede Versöhnung mit seiner Freundin mit. Sonja, die mit mir studierte, besuchte mich hin und wieder. Sie interessierte sich für die Architektur des Olympiadorfs, und später kam sie, um mit mir zu lernen. Einmal, an einem heißen Sommernachmittag, als wir zusammen Architekturgeschichte büffelten, war aus dem Nachbarhaus Geschrei zu hören. Ich wollte schon rübergehen, um mich zu beschweren, da wurde es still. Etwas später hörten wir die Lustschreie einer Frau. Sonja begriff erst gar nicht und meinte, jemand werde bedroht, wir müssten nachschauen, was los sei. Ich glaube nicht, dass sie Hilfe brauchen, sagte ich lachend. Erst da schien Sonja zu verstehen, was los war. Ich sagte, ich hätte doch besser Germanistik studieren sollen, da müsse man nicht so viel arbeiten und habe Zeit für anderes. Sonja errötete und sagte, sie gehe zur Toilette. Als sie zurückkam, hatte der Lärm noch immer nicht aufgehört, und nach einigen Minuten meinte sie, sie müsse los, sie habe noch eine
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