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Sieben Jahre

Sieben Jahre

Titel: Sieben Jahre
Autoren: Peter Stamm
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Stelle kümmern. Sie wolle ins Ausland gehen und da wäre eine feste Bindung nur hinderlich. Ich möchte mal erleben, dass du dich richtig verliebst, sagte ich, so, dass es weh tut. Sie lachte. Ich sei gerade der Richtige, das zu sagen.
     
    Ich war vor Sonja in der Kneipe und sah durch das Fenster, wie sie über die Straße auf mich zukam. Sie trug eine weiße Hose und ein ärmelloses weißes T-Shirt und war braun gebrannt. Als sie ins Lokal trat, drehten sich alle nach ihr um. Sie kam an meinen Tisch und küsste mich auf die Wangen. Während sie sich setzte, schaute sie sich kurz um, als suche sie jemanden. Der Kellner war da, bevor ich ihm ein Zeichen geben konnte.
    Sonja erzählte von einem Wettbewerb, an dem sie teilnehmen wollte, ein Kinderhort für einen großen Industriebetrieb. Sie setzte ihre Brille auf, mit der sie mir noch besser gefiel, und zeigte mir ihre Skizzen. Ich machte ein paar Vorschläge, die sie alle verwarf. Ich sei auch schon besser gewesen. Ich sagte, ich hätte schlecht geschlafen. Sie schaute mich mit gespieltem Bedauern an und sprach weiter von ihrem Projekt, von Integration und Geborgenheit und von der Persönlichkeit der Kinder, ihrer Einzigartigkeit und ihrem Potenzial. Mein Kunde ist das Kind, sagte sie, schob sich die Brille ins Haar und lächelte.
    Sonja war das absolute Gegenteil von Iwona. Sie war schön und gescheit und redete viel, sie hatte Charme und eine natürliche Sicherheit. Ihre Anwesenheit schüchterte mich immer etwas ein, und ich hatte das Gefühl, besser sein zu müssen, als ich war. Mit Iwona war die Zeit unendlich langsam vergangen, voller Momente peinlicher Stille. Sie hatte einsilbig auf meine Fragen geantwortet, und ich musste mich dauernd bemühen, das Gespräch am Laufen zu halten. Sonja hingegen war die perfekte Gesellschafterin. Sie kam aus einer wohlhabenden Familie, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie etwas Niveauloses tat oder sagte. Bestimmt würde sie eine steile Karriere machen. Sie würde sich im sozialen Wohnungsbau engagieren und in irgendwelchen Gremien sitzen und daneben noch zwei oder drei Kinder großziehen, die immer sauber sein würden und ebenso gepflegt und wohlerzogen wie sie. Aber Sonja würde nie zu einem Mann sagen, sie liebe ihn, nie so, wie Iwona es zu mir gesagt hatte, als gebe es keine andere Möglichkeit. Iwonas Liebeserklärung war mir peinlich gewesen, ebenso die Vorstellung, mit ihr zusammen gesehen zu werden, dennoch hatte der Gedanke an ihre Liebe etwas Erhebendes. Es war, als sei Iwona der einzige Mensch, der mich ernst nahm, dem ich wirklich etwas bedeutete. Sie war die einzige Frau, die in mir mehr sah als den netten Jungen oder den vielversprechenden Architekten. Seit ich aufgestanden war, hatte ich dauernd an sie denken müssen, und insgeheim wusste ich längst, dass ich sie wiedersehen musste, und sei es nur, um mich von ihr zu befreien. Sie hatte erzählt, sie arbeite als Aushilfe in einer christlichen Buchhandlung. Es konnte nicht allzu schwer sein, sie zu finden.
    Sonja erzählte von einem Sternmarsch, an dem sie teilgenommen hatte, für die Opfer des Tian’anmen-Massakers. In der Nacht, die ich mit Iwona verbracht hatte, war sie mit ein paar Gleichgesinnten vom Goetheplatz zum Marienplatz marschiert und hatte mit Kerzen das chinesische Zeichen für Trauer auf den Platz geschrieben. Nach buddhistischem Glauben suchen sich die Seelen der Verstorbenen nach neunundvierzig Tagen einen neuen Körper, sagte sie. Es war sehr bewegend, ich habe sogar weinen müssen. Sie schien selbst ganz erstaunt zu sein über ihren Gefühlsausbruch. Ich hoffe nur, dass deine Seele sich keinen neuen Körper sucht, sagte ich, das wäre zu schade. Sonja schaute mich an, als hätte ich die chinesischen Studenten höchstpersönlich erschossen. Ich muss los, sagte ich. Sie fragte, ob ich zu Rüdigers Abschlussparty komme. Ich sagte, ich wisse es noch nicht.
     
    Im Telefonbuch fand ich drei christliche Buchhandlungen. Ich fuhr zur ersten, aber dort hieß es, man erteile keine Auskünfte über Angestellte. Ich schaute mich um. Als ich Iwona nicht sah, ging ich zur nächsten. Der Buchhändler hier war weniger misstrauisch. Er sagte, bei ihm arbeite keine Polin und in der Claudius Buchhandlung, dem dritten Geschäft auf meiner Liste, bestimmt auch nicht, die sei nämlich evangelisch. Er dachte kurz nach. Zur Pfarrkirche St. Joseph in Schwabing gehöre ein kleiner Laden, in dem auch Bücher verkauft würden. Vielleicht arbeitete meine
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