Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sieben Erzaehlungen

Titel: Sieben Erzaehlungen
Autoren: Dino Buzzati
Vom Netzwerk:
Illusionen. Einer lachte. Mit einem Sprung war ich im Wagen. Ich riß ein Fenster auf, suchte in der Menge befreundete Gesichter. Nicht ein Hund war zu sehen. Und nun voran, oh Zug, nicht eine einzige Minute wollen wir verlieren, renne, galoppiere. Herr Maschinist, geize nicht mit den Kohlen, treib an den Leviathan. Ein Schnauben, ein Ruck, die Wagen erbebten, und, zuerst langsam, defilierten, eine nach der anderen, die Träger der Halle an mir vorbei. Dann Häuser Häuser Fabriken Gasometer Hallen Häuser Häuser Schornsteine Häuser Häuser Bäume Gemüsegärten Häuser tran-tran tran-tran die Wiesen das Land, die ziehenden Wolken am offenen Himmel! Gibs ihm, Maschinist, mit der ganzen Kraft des Dampfes.
    Mein Gott, wie rannte der Zug. Bei diesem Tempo konnte es nicht schwer sein, dachte ich, die Station 1 zu erreichen und dann die Stationen 2, 3, 4 und schließlich 5, die letzte, und dies wäre der Sieg gewesen. Durch die Fenster-scheiben betrachtete ich zufrieden die Telegraphendrähte, die sich senkten, sich senkten, bis sie plötzlich einen Sprung nach unten machten, tac, und sich dann wieder zur alten Höhe, zum nächsten Telegraphenmast erhoben: und der Rhythmus beschleunigte sich immer mehr. Aber mir gegenüber, auf dem Divan aus rotem Samt saßen zwei Herren, mit den Mienen derer, die in Dingen des Eisenbahnverkehrs sachverständig sind. Sie schlugen fortgesetzt im Kursbuch nach und schüttelten brummend den Kopf.
    Da ich ein etwas ängstlicher Mensch bin, faßte ich mir ein Herz und fragte: „Wenn ich nicht aufdringlich bin, meine Herren, warum schütteln Sie so den Kopf?“
    „Wir schütteln den Kopf“, antwortete mir der Altere der beiden, „weil dieser verwünschte Zug nicht so fährt, wie es seine Pflicht wäre. Bei diesem Tempo werden wir mit einer entsetzlichen Verspätung ankommen.“
    Ich sagte nichts, dachte aber: „Nie sind sie zufrieden, diese Menschen. Der Zug ist doch geradezu begeisternd in seiner Kraft und seinem guten Willen. Er ist wie ein Tiger, er rennt, wie wahrscheinlich noch kein Zug gerannt ist, und doch immer wieder diese sich ewig beschwerenden Reisenden.“ Indessen flohen auf beiden Seiten die Felder mit bewunderungswürdigem Schwung vorbei, und die Entfernung hinter unserem Rücken wuchs ins Riesenhafte.
    In der Tat erschien die Station 1 eher, als ich erwartet hatte. Ich sah auf die Uhr. Wir waren völlig pünktlich. Hier sollte ich nach meinem Programm den Ingenieur Moffin wegen eines sehr wichtigen Geschäftes treffen. Ich stieg eilig aus und begab mich, wie vorgesehen, schnell zum Restaurant 1. Klasse. Dort befand sich tatsächlich Moffin, der gerade sein Mittagsmahl beendet hatte.
    Ich begrüßte ihn, nahm Platz, aber er deutete in keiner
    Weise auf unser Geschäft hin, sprach vom Wetter und anderen gleichgültigen Dingen, wie wenn er unermeßlich viel Zeit hatte. So vergingen gut zehn Minuten (noch fehlten bis zur Abfahrt kaum sieben), ehe er sich entschloß, aus der Ledermappe die notwendigen Aktenhefte herauszuholen. Aber er bemerkte, daß ich auf die Uhr sah. „Haben Sie etwa Eile, junger Mann?“ fragte er mich ohne Ironie. „Mir, um offen zu sein, behagt es nicht, geschäftliche Dinge zu besprechen, während einem das Wasser an der Kehle steht.“
    „Sie haben durchaus Recht, verehrter Herr Ingenieur“, wagte ich zu sagen, „aber mein Zug geht in kurzer Zeit und ...“
    „Wenn es so ist“, erwiderte er, mit einer energischen Geste der Hände die Blätter zusammenraffend, „so tut es mir leid, unendlich leid, aber wir werden uns, wenn überhaupt, von neuem unterhalten, wenn Sie, lieber Herr, ein wenig mehr Zeit haben.“ Und er erhob sich. „Entschuldigen Sie“, stammelte ich, „es ist nicht meine Schuld. Sehen Sie, der Zug .“
    „Es macht nichts, es macht nichts“, sagte er, überlegen lächelnd.
    Ich hatte kaum Zeit genug, den Zug zu erreichen, der sich von neuem langsam in Bewegung setzte. „Geduld“, dachte ich, „ich werde es ein anderes Mal nachholen. Das, was zählt, ist, nicht den Zug zu versäumen.“
    Wir flogen durch die Felder, und die Telegraphendrähte tanzten auf und nieder mit jenen epileptischen Anfallen, man sah unermeßliche Prärien und immer seltener Häuser, immer seltener, weil wir in die Länder des Nordens eindrangen, die sich nach allen Seiten der Einsamkeit und dem Geheimnis öffneten.
    Die beiden Herren von zuvor waren nicht mehr da. In meinem Abteil saß ein protestantischer Pfarrer von mildem Aussehen, welcher
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher