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Sieben Erzaehlungen

Titel: Sieben Erzaehlungen
Autoren: Dino Buzzati
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hustete. Vor uns Wiesen und Wälder und Sümpfe, während hinter uns die Entfernung erschreckend und schmerzhaft anschwoll.
    Auf einmal, da ich nicht wußte, was tun, sah ich zur Uhr, und sofort tat der Pfarrer zwischen einem und dem anderen Hustenstoß das gleiche und schüttelte den Kopf. Aber diesmal fragte ich nicht nach dem Warum, denn leider kannte ich es. Es war 16.35 Uhr, und schon seit einer Viertelstunde hätten wir auf der Station 2 angekommen sein müssen, die immer noch nicht am Horizont sichtbar wurde.
    Auf der Station 2 sollte mich Rosanna erwarten. Als der Zug einlief, befanden sich auf dem Bahnsteig viele Leute. Aber Rosanna war nicht da. Wir hatten eine Verspätung von einer halben Stunde. Ich sprang aus dem Zug, durchschritt das Bahnhofsgebäude und sah auf den Platz hinaus. Und nun, im Hintergrund der Allee, weit entfernt, erblickte ich Rosanna, die, ein wenig gebeugt, wegging. „Rosanna, Rosanna!“ rief ich so laut ich konnte. Aber meine Geliebte war schon zu weit entfernt. Sie wandte sich nicht ein einziges Mal um und, unter uns gesagt, was hätte ich nun tun sollen: Konnte ich hinter ihr her rennen, konnte ich den Zug und alles andere aufgeben?
    Rosanna verschwand am Ende der Straße, und mit einem Verzicht mehr bestieg ich von neuem den Schnellzug, und weiter, durch die Ebenen des Nordens, dem entgegen, das die Menschen Schicksal nennen. Was hatte die Liebe zu bedeuten, nach allem?
    Wir reisten Tag für Tag, die Telegraphendrähte längs der Schienen tanzten ihren neurasthenischen Tanz, aber warum hatte das Dröhnen der Räder nicht mehr das schöne Ungestüm von früher? Warum zögerten am Horizont die Bäume unlustig, anstatt wie überraschte Hasen loszuschnellen?
    Auf der Station 3 hatten sich kaum zwanzig Menschen versammelt. Das Komitee, das kommen sollte, um mich zu feiern, war nicht zu sehen.
    Ich holte auf dem Bahnsteig Informationen ein. „Ist nicht zufällig ein Komitee so und so gekommen?“ fragte ich, „Männer und Frauen mit Fahnen und Musikkapelle?“ „Doch, ja, es war da. Es hat auch ziemlich lange gewartet. Dann hat es genug gehabt und ist gegangen.“
    „Wann?“
    „Es werden drei oder vier Monate her sein“, war die Antwort. In diesem Augenblick horte man einen langgezogenen Pfiff, der die Abfahrt des Zuges anzeigte. Mutig voran. Der Schnellzug hinkte weiter mit aller verfügbaren Kraft, zweifellos war es nicht mehr der fortreißende Galopp von einstmals. Lag es an schlechter Kohle? War es die andere Luft? Oder die Kälte? War der Maschinist müde? Und die Entfernung hinter uns war wie ein schwindelerregender Abgrund.
    Auf der Station 4 mußte die Mutter sein, ich wußte es. Aber als der Zug hielt, waren die Bahnsteige leer. Und es schneite.
    Ich lehnte mich weit aus dem Fenster heraus, schaute umher und war im Begriff, es enttäuscht wieder zu schließen, als ich sie endlich sah: im Wartesaal, zusammengekrümmt auf einer Bank, ganz in einen Schal eingehüllt, sie schlief.
    Ich sprang heraus und lief, sie zu umarmen. Als ich sie an mich drückte, merkte ich, daß sie fast nichts mehr wog, ein zerbrechliches Knochenbündel. Und ich fühlte, wie sie vor Kälte zitterte.
    „Sag mir, erwartest Du mich schon länger?“
    „Nein, nein, mein Sohn“, und sie lachte glücklich, „nicht einmal vier Jahre.“
    Während sie das sagte, sah sie nicht mich an, sondern schaute umher auf den Boden, fast als wenn sie etwas suche.
    „Was suchst du, Mutter?“
    „Nichts . Aber Deine Koffer? Hast Du sie draußen auf dem Bahnsteig gelassen?“
    „Sie sind im Zug“, sagte ich.
    „Im Zug“, und ein Schatten von Trostlosigkeit senkte sich wie ein Schleier auf ihre Stirn herab. „Du hast sie noch nicht ausgeladen?“
    „Aber ich .“ Ich wußte wirklich nicht, wie ich es ihr sagen sollte.
    „Möchtest Du sagen, daß Du gleich weiterfährst? Daß Du nicht einmal einen Tag bleibst?“
    Sie schwieg, bestürzt, und schaute mich an.
    Ich seufzte. „In ordnung. Der Zug soll abfahren. Ich laufe, um die Koffer zu holen. Ich habe entschieden. Ich bleibe bei Dir. Nach allem anderen hast Du jetzt vier Jahre auf mich gewartet.“
    Bei diesen Worten wechselte ihr Gesichtsausdruck von neuem. Die Fröhlichkeit kehrte zurück und ein Lächeln, das jedoch nicht mehr Licht als zuvor ausstrahlte.
    „Nein, nein, hol nicht das Gepäck, ich habe mich falsch ausgedrückt“, flehte sie. „Es war nur Scherz, weißt Du. Ich verstehe Dich. Du darfst nicht in diesem armseligen Lande bleiben. Für mich
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