Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sie

Sie

Titel: Sie
Autoren: Henry Rider Haggard
Vom Netzwerk:
selbst ein Urteil bilden. Ich übergebe sie ihm, wie ich sie erhalten habe – abgesehen von einigen wenigen Änderungen, die ich vornahm, um die Identität der Akteure der Öffentlichkeit zu verbergen. Jeglichen persönlichen Kommentars will ich mich enthalten. Anfangs neigte ich zu der Ansicht, diese Geschichte einer in die Majestät ihrer ungezählten Jahre gehüllten Frau, auf welcher der Schatten der Ewigkeit ruht wie der dunkle Fittich der Nacht, sei eine gewaltige Allegorie, deren Sinn ich nicht zu enträtseln vermöge. Dann wieder glaubte ich, es sei vielleicht ein kühner Versuch, die Folgen faktischer Unsterblichkeit an einem sterblichen Wesen zu demonstrieren, das seine Kraft aus der Erde zieht, in dessen Brust jedoch Leidenschaften auflodern und erlöschen, wie sich in der unvergänglichen Welt, die es umgibt, die Winde und Fluten unaufhörlich erheben und senken. Doch später ließ ich auch diesen Gedanken fallen. Mir scheint diese Geschichte den Stempel der Wahrheit zu tragen. Ich muß es anderen überlassen, sie zu enträtseln, und so übergebe ich denn nach dieser kurzen, durch die Umstände gebotenen Einleitung der Welt den Bericht über Ayesha und die Höhlen von Kôr.
    Der Herausgeber
     
    P.S. Bei nochmaligem Durchlesen der Geschichte ist mir ein, wie ich glaube, sehr wesentlicher Punkt aufgefallen, auf den ich die Aufmerksamkeit des Lesers lenken möchte. Er wird bemerken, daß nichts an Leo Vinceys Charakter, soweit wir ihn kennenlernen, dazu angetan scheint, einen so mächtigen Geist wie den Ayeshas zu fesseln. Er ist nicht einmal – jedenfalls in meinen Augen – besonders interessant. Man sollte sogar meinen, daß es Mr. Holly unschwer hätte gelingen müssen, ihn auszustechen. Könnte es sein, daß auch in diesem Fall die Gegensätze sich anzogen, daß gerade die Fülle und der Reichtum ihres Geistes eine seltsame physische Reaktion auslösten, die sie der rein äußerlichen Schönheit eines Mannes verfallen ließ? Oder ist die wahre Erklärung die, daß Ayesha, die weiter und tiefer zu blicken vermochte als wir, den in der Seele ihres Geliebten verborgenen Keim und Funken der Größe entdeckte und erkannte, daß er, genährt durch ihre Lebenskraft, befruchtet durch ihr Wissen und bestrahlt von der Sonne ihres Wesens, aufblühen würde wie eine Blume und aufstrahlen wie ein Stern, um die Welt mit Duft und Licht zu erfüllen? Auch hierauf weiß ich keine Antwort, sondern muß es dem Leser überlassen, sich anhand der von Mr. Holly nachstehend geschilderten Tatsachen sein eigenes Urteil zu bilden.

1
     
    Ein Besucher
     
     
    Es gibt Ereignisse, die sich in allen Einzelheiten so tief dem Gedächtnis einprägen, daß man sie nie vergißt. Mir ergeht es 59 mit dem folgenden, das mir so klar vor Augen steht, als hätte es sich erst gestern zugetragen.
    Es ist in diesem Monat etwas über zwanzig Jahre her, daß ich, Ludwig Horace Holly, eines Abends in meinem Zimmer in Cambridge saß und mir über eine mathematische Aufgabe den Kopf zerbrach. Ich wollte in einer Woche mein Fellowship-Examen ablegen, und mein Tutor und meine Kollegen waren überzeugt, daß ich es glänzend bestehen würde. Müde und erschöpft schob ich schließlich mein Buch beiseite, ging zum Kamin und stopfte mir eine Pfeife. Auf dem Kaminsims stand eine brennende Kerze, hinter der ein langer schmaler Spiegel hing, und als ich mir die Pfeife anzünden wollte, fiel mein Blick auf mein Bild darin. Ich hielt inne und betrachtete es nachdenklich. Das Streichholz brannte weiter, bis es mir die Finger versengte und ich es wegwerfen mußte; doch ich blieb stehen und starrte, tief in Gedanken versunken, auf mein Spiegelbild.
    »Hoffentlich«, sagte ich schließlich laut, »werde ich es einmal mit dem, was in meinem Kopf drin ist, zu etwas bringen, denn mit seinem Äußeren wird wohl kaum viel auszurichten sein.«
    Diese Bemerkung dürfte dem Leser ziemlich unverständlich sein, und deshalb möchte ich hinzufügen, daß ich damit auf meine körperlichen Mängel anspielte. Die meisten Männer im Alter von zweiundzwanzig Jahren besitzen wenigstens in mehr oder weniger starkem Grad die Anmut der Jugend, doch mir war selbst diese versagt. Klein und untersetzt, mit einer unförmig breiten Brust, langen mageren Armen, plumpen Gesichtszügen, tiefliegenden grauen Augen, einer niedrigen, halb von dichtem schwarzen Haar überwucherten Stirn – so sah ich vor einem Vierteljahrhundert aus, und daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher