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Titel: Sie
Autoren: Henry Rider Haggard
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bist genau der Richtige, Holly; denn du bist wie ein starker Baum – im Innern kräftig und kerngesund. Hör zu: Der Junge ist der letzte Sproß einer der ältesten Familien der Welt. Vielleicht kommt dir das unglaubwürdig vor, doch eines Tages wirst du den über jeden Zweifel erhabenen Beweis dafür in Händen haben, daß mein fünfundsechzigster oder sechsundsechzigster direkter Vorfahre, ein gebürtiger Grieche namens Kallikrates * , ein ägyptischer Isispriester war. Sein Vater war einer der von Hak-Hor, einem mendesischen Pharao der neunundzwanzigsten Dynastie, angeworbenen griechischen Söldner; sein Großvater oder Urgroßvater der von Herodot erwähnte Kallikrates * * . Um das Jahr 339 v. Chr., als das Pharaonenreich unterging, brach dieser Kallikrates sein Priestergelübde und floh mit einer Prinzessin königlichen Blutes, die ihn liebte, aus Ägypten. Ihr Schiff strandete an der afrikanischen Küste, in der Gegend der heutigen Delagoa-Bucht oder etwas nördlich davon. Die ganze Besatzung kam ums Leben; nur er und seine Frau wurden gerettet. Sie erlitten viel Ungemach, wurden aber schließlich von der mächtigen Königin eines wilden Volkes aufgenommen, einer weißen Frau von ungewöhnlicher Schönheit, die unter Umständen, auf die ich jetzt nicht näher eingehen kann, über welche dich jedoch eines Tages der Inhalt dieses Kastens in Kenntnis setzen wird, schließlich meinen Vorfahren Kallikrates ermordete. Seine Frau konnte jedoch – wie, weiß ich nicht – nach Athen entkommen, und sie gebar bald darauf ein Kind, dem sie den Namen Tisisthenes gab, das heißt ›der mächtige Rächer‹. Aus unbekannten Gründen übersiedelte die Familie fünfhundert oder mehr Jahre später nach Rom, wo die meisten ihrer Mitglieder, wahrscheinlich um den im Namen Tisisthenes ausgedrückten Rachegedanken zu erhalten, den Beinamen Vindex, ›der Rächer‹, annahmen. Dort blieben sie weitere fünfhundert Jahre bis um das Jahr 770, in dem Karl der Große in die Lombardei einfiel, wo sie damals ansässig waren. Das Oberhaupt der Familie scheint sich dem großen Kaiser angeschlossen zu haben; es folgte ihm über die Alpen und ließ sich schließlich in der Bretagne nieder. Acht Generationen später kam sein direkter Nachkomme unter der Regentschaft Edwards des Bekenners nach England und brachte es dort unter Wilhelm dem Eroberer zu Macht und Ansehen. Von damals bis zum heutigen Tage kann ich meine Herkunft lückenlos zurückverfolgen. Die Vinceys – dazu wurde der Name verstümmelt, nachdem die Familie sich in England niedergelassen hatten – haben sich übrigens in keiner Weise besonders ausgezeichnet oder hervorgetan. Teils waren sie Soldaten, teils Kaufleute – im großen und ganzen angesehene, doch durchaus unbedeutende Bürger. Von der Zeit Karls II. bis zum Beginn dieses Jahrhunderts waren sie Kaufleute. Um 1790 setzte sich mein Großvater, der eine Brauerei besaß und damit ein ansehnliches Vermögen erwarb, zur Ruhe. Er starb 1821, und mein Vater, der ihm folgte, brachte den größten Teil des Geldes durch. Als er vor zehn Jahren starb, hinterließ er mir eine jährliche Rente von etwa zweitausend Pfund. Ich unternahm damals in Zusammenhang damit« – er deutete auf den eisernen Kasten – »eine Expedition, die leider erfolglos blieb. Auf dem Rückweg bereiste ich Südeuropa und kam auch nach Athen. Dort lernte ich meine geliebte Frau kennen, die wohl, genau wie mein alter griechischer Vorfahre, den Beinamen ›die Schöne‹ verdient hätte. Ich heiratete sie, und ein Jahr später, bei der Geburt meines Sohnes, ist sie gestorben.«
    Er schwieg eine Weile, den Kopf in die Hand gestützt. Dann fuhr er fort:
    »Meine Heirat hatte mich von einem Plan abgelenkt, auf den ich jetzt nicht näher eingehen kann. Ich habe keine Zeit, Holly – keine Zeit! Wenn du die Vormundschaft übernimmst, wirst du eines Tages alles darüber erfahren. Nach dem Tod meiner Frau beschäftigte ich mich wieder mit diesem Plan. Doch zuerst schien es mir notwendig, mir eine genaue Kenntnis der orientalischen Sprachen anzueignen, vor allem des Arabischen. Zu diesem Zweck kam ich hierher, doch bald bin ich erkrankt, und nun ist es aus mit mir.« Und als wollte er diese Worte bekräftigen, verfiel er in einen neuen schrecklichen Hustenanfall.
    Ich gab ihm noch einen Schluck Whisky, und nachdem er sich ein wenig erholt hatte, fuhr er fort:
    »Ich habe meinen Sohn Leo nicht gesehen, seit er ein ganz kleines Kind war. Ich konnte seinen Anblick
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