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Shining Girls (German Edition)

Shining Girls (German Edition)

Titel: Shining Girls (German Edition)
Autoren: Lauren Beukes
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drängend:
Geh weiter, geh weiter, Harper Curtis.
    Die Musik trägt ihn über die Eisenbahngleise, tief in die West Side und auf die Stufen eines Arbeiterhauses, ununterscheidbar von den anderen Holzhäusern in der Reihe, Schulter an Schulter mit ihnen, mit abblätternder Farbe und vernagelten Erkerfenstern und einem Schild mit der Aufschrift «Abbruchhaus – City of Chicago», das auf den Brettern klebt, mit denen der Eingang X-förmig zugenagelt worden ist. Macht euer Kreuz für Präsident Hoover genau hier, ihr hoffnungsvollen Männer. Die Musik kommt hinter der Tür von Nummer  1818 heraus. Eine Einladung.
    Er greift unter den gekreuzten Brettern hindurch und drückt den Türgriff herunter, aber es ist abgeschlossen. Die Straße ist vollkommen verlassen. Die anderen Häuser sind vernagelt oder ihre Vorhänge fest zugezogen. Er hört den Verkehr einen Block weiter, einen Straßenhändler, der geröstete Erdnüsse anpreist. «Warm kaufen, essen beim Laufen», aber es klingt dumpf, als käme es durch Tücher, die um seinen Kopf gewickelt sind. Dagegen ist die Musik ein scharfer Splitter, der sich direkt durch seinen Schädel bohrt:
Der Schlüssel
.
    Er steckt die Hand in die Jacketttasche, weil er plötzlich fürchtet, ihn verloren zu haben. Erleichtert stellt er fest, dass der Schlüssel noch da ist. Er ist aus Bronze, und der Markenname
Yale & Towne
ist darauf eingeprägt. Das Schloss an der Tür ist von derselben Firma. Zitternd schiebt Harper den Schlüssel hinein. Er passt.
    Die Tür schwingt in die Dunkelheit auf, und einen langen, schrecklichen Moment bleibt er wie gelähmt stehen angesichts der neuen Möglichkeiten. Und dann duckt er sich unter den Brettern hindurch, hantiert ungeschickt mit seiner Krücke und schiebt sich durch die Lücke zwischen den Brettern und in das Haus.

Kirby
    9 . September 1980
    Es ist einer von diesen kühlen, klaren Tagen zu Beginn des Herbstes. Die Bäume können sich nicht recht entscheiden, ihre Blätter sind gleichzeitig grün und gelb und braun. Kirby kann schon aus einem Block Entfernung erkennen, dass Rachel stoned ist. Nicht nur, weil dieser süßliche Geruch im Haus hängt (total verräterisch), sondern weil Rachel so fahrig im Vorgarten herumläuft und ein Tamtam über etwas veranstaltet, das auf dem verwilderten Rasen ausgelegt ist. Tokyo springt und bellt aufgeregt um sie herum. Sie sollte nicht zu Hause sein. Sie sollte bei einem ihrer sogenannten Sojourns sein, beziehungsweise «So-Johns», wie Kirby es genannt hat, als sie noch klein war. Okay, bis vor einem Jahr.
    Wochenlang hatte sie sich damals gefragt, ob dieser So-John ihr Dad sei und ob Rachel plane, sie einander vorzustellen. Dann erklärte ihr Grace Tucker in der Schule, ein John wäre ein Ausdruck für einen Mann, der sich eine Prostituierte nimmt, und genau das wäre ihre Mutter. Kirby wusste nicht, was eine Prostituierte war, aber sie schlug Gracie die Nase blutig, und Gracie riss ihr eine Haarsträhne aus.
    Rachel fand das urkomisch, obwohl Kirbys Kopf an der Stelle, an der ihr Gracie die Haare ausgerissen hatte, blutverkrustet war und schmerzte. Rachel wollte angeblich nicht lachen, ehrlich, «aber es ist
wirklich
unheimlich lustig». Dann erklärte sie es Kirby auf dieselbe Art, auf die sie alles erklärte, nämlich auf die Art, die überhaupt nichts erklärte. «Eine Prostituierte ist eine Frau, die ihren Körper benutzt, um sich die Eitelkeit der Männer zunutze zu machen», hatte sie gesagt. «Und ein Sojourn ist eine Belebung des Geistes.» Aber es stellte sich heraus, dass diese Erklärung nicht mal annähernd stimmte. Denn eine Prostituierte bekam Geld für Sex, und ein Sojourn war ein Urlaub vom echten Leben, und das ist das Letzte, was Rachel braucht. Weniger Urlaub, mehr echtes Leben, Mom.
    Kirby pfeift nach Tokyo. Fünf kurze, scharfe Töne, markant genug, um sie aus den ganzen anderen Pfiffen herauszuhören, mit denen die Leute ihre Hunde im Park zu sich rufen. Er springt auf sie zu, so glücklich, wie es nur ein Hund sein kann. «Reinrassige Promenadenmischung», nennt ihn Rachel gern. Rauflustig, mit einer langen Schnauze und braun-weiß geflecktem Fell und hellen Ringen um die Augen. Kirby hat ihn «Tokyo» genannt, weil sie nach Japan zieht, wenn sie groß ist und eine berühmte Übersetzerin von Haiku-Gedichten wird und grünen Tee trinkt und Samurai-Schwerter sammelt. («Na ja, immerhin besser als Hiroshima», meint ihre Mutter.) Sie hat schon angefangen, eigene Haikus zu
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