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Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt
Autoren: Michael Köhlmeier
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genoß sie. Und das nur eine kurze Zeit. Dann heiratete er seine Schwägerin Gertrude, die Gemahlin des verstorbenen Königs, Hamlets Mutter. Da gab es dann nur noch wenige, die für Claudius waren. Das gehöre sich einfach nicht, wurde kritisiert. Die beiden haben ja nicht einmal das obligate Trauerjahr eingehalten. Keine zwei Monate haben sie gewartet!
    Einem aufmerksamen neutralen Beobachter wäre die Empörung allerdings etwas zu laut erschienen. Und wenn der zudem über einige Menschenkenntnis verfügte, würde er sagen: So empört man sich nur über eine Sache, mit der man gerechnet hat. Als hätten sich die Leute in ihrer Brust gedacht: Die beiden werden doch nicht! Und dann haben sie doch. Ein Unrecht, mit dem jeder rechnet, gilt als ausgespielt und gebannt. Wenn es dennoch geschieht, empören wir uns besonders stark, weil zum Unrecht noch Frechheit hinzukommt.
    »Sie hätten auf alle Fälle warten müssen«, heißt es. »Aus Pietät!«
    Und weiter heißt es: »Der arme Hamlet! Das war gegen ihn gemünzt!«
    Fragen wir nicht, was das genau heißen soll! Wir würden keine Antwort bekommen. Nur wieder die üblichen Laute und Gesten.
     
    Prinz Hamlet hat seine Studien unterbrochen, um an den Trauerfeierlichkeiten zu Ehren seines Vaters teilzunehmen. Und anstatt gleich anschließend wieder nach Wittenberg zu fahren, bleibt er in Dänemark. Er tut nichts.
    Lungert im Schloß herum. Schwarz. Nur in Schwarz kleidet er sich. Die ganze Person ein einziger Vorwurf. Im Gegensatz zu früher redet er jetzt andauernd. Aber zu niemandem. Mit den Wänden redet er. Oder mit Horatio. Der auch eine Wand ist. Horatio ist Hamlets Freund, und noch ist es keinem gelungen, ihn um Sprit für die Gerüchte anzuzapfen. Horatio steht loyal zu dem Prinzen. Manche sagen, Hamlets Arroganz habe auf ihn abgefärbt.
    Über die Situation im groben weiß man Bescheid: Hamlet haßt seinen Onkel Claudius. Und Hamlet erhebt bittere Vorwürfe gegen seine Mutter. Daß sie diese Kreatur überhaupt genommen habe! Zu ihrem Mann. Zu ihrem Gatten. Mit dem sie das Bett teilt. Vergleicht sie denn gar nicht? Hier der König, wie er war, ein Wunder, das alles, was lebte, überragt hat. Daneben der da, der nicht einmal der zwanzigste Teil eines Zehntels von seinem Bruder ist, ein Lumpenkönig, eine Kröte. Was für ein Abstieg! Und den hat sie genommen, freiwillig dazu. Wenn Claudius Gertrude gezwungen hätte! Hat er aber nicht! War nicht nötig gewesen.
    Und wie rechtfertigt sich Gertrude? Ihr Sohn gibt ihr keine Gelegenheit, sich zu rechtfertigen. Er taucht unverhofft auf, redet, redet, redet, läßt keine Lücke, in die man stoßen könnte, es müßte ihm jemand den Mund zuhalten, um ihn zum Schweigen zu bringen, redet, redet, redet, dann dreht er sich um und ist weg.
    Gertrude liebt ihren Sohn, und sie macht sich Sorgen um sein Gemüt. Sie muß ihm auflauern, man stelle sich das vor! Anders besteht keine Chance, mit ihm zu sprechen.
    »Hör doch, Hamlet! Hör mir zu! Du verirrst dich in einem Wahn! Fördere das nicht auch noch! Heitere dich auf! Fang bei den Kleidern an! Such dir etwas Helles, etwas Buntes aus! Warum kannst du niemandem in die Augen sehen? Starr nicht immer auf den Boden, als ob du die Spuren des toten Königs suchen würdest.«
    »Als ob ich die Spuren des toten Königs suchen würde!«
    »Wir müssen ohne ihn leben, Hamlet.«
    »Was meinst du mit ›als ob‹, Mutter? Denkst du, ich spiele? Daß ich die Trauer nur spiele? Daß ich dieses Kleid nur anziehe, um so zu tun, als ob ich traurig wäre?«
    »Wenn du es wünschst«, sagt Gertrude, »werde ich jede deiner Fragen beantworten. Ich werde dir alles erzählen. Nehmen wir uns Zeit. Ich stehe dir zur Verfügung.«
    Das will er nicht! Hamlet hört, was seine Mutter sagt, aber anstatt ihr zu antworten, zerpflückt er jedes ihrer Worte. Er geht vor seiner Mutter auf und ab, keinen Augenblick kann er ruhig stehen. Er hebt die Hände zum Kopf, als wolle er sich die Ohren zuhalten.
    »Was ich innerlich fühle«, bricht es aus ihm heraus, »ist über allem Ausdruck!«
    Auch Claudius versucht es. Er geht mit offenen Armen auf Hamlet zu: »Wir alle sind doch erwachsene Menschen«, sagt er. »Ich respektiere deine Trauer, mein geliebter Sohn, und deine Mutter respektiert sie auch. Aber ich möchte dir etwas sagen, es ist vielleicht ein Trost: Dein Vater hatte auch einen Vater, und der ist gestorben, und der Vater deines Vaters hatte auch einen Vater, und der ist auch gestorben. So ist der Lauf
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