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Sellavie ist kein Gemüse

Sellavie ist kein Gemüse

Titel: Sellavie ist kein Gemüse
Autoren: Thommie Bayer
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„Octember Variations“ ins Leben gerufen. Wir sind alle drei international renommierte Jazzer, haben unzählige Platten aufgenommen, Preise gewonnen und Tourneen von Göteborg bis Abu Dhabi gemacht, wir stehen in den einschlägigen Lexika und haben mit den berühmtesten Musikern gespielt. Der Bassist ist Architekt, der Schlagzeuger schreibt Kinderbücher und ich unterrichte an einer Jugendmusikschule. Für Octember Variations bin ich die Anlaufadresse, also das Management. Diesmal ruft, schon am vierten Oktober, ein Dr. Golz aus Waldshut an. Ob wir mit der Oktobervariation im November an einem Sonntagvormittag um elf Uhr spielen könnten. Octember, sage ich, nicht Oktober. Ja, November, sagt er, jeder Sonntag sei recht, bloß im November müsse es sein. Er wisse, das sei jetzt sehr kurzfristig, aber er würde sich sehr freuen undsoweiter undsofort. Ich biete ihm den zwölften November an, für den elften habe ich schon im Juli einem Herrn Storz aus Olpe zugesagt. Da müssen wir zwar die Nacht durchfahren, aber erstens sparen wir das Hotel und nutzen zweitens den Wochenendtarif für Anlage und Auto besser aus. Das sei ihm jetzt peinlich, sagt er, aber er habe nicht mehr so viel Geld zur Verfügung, ob wir denn einen Sonderpreis machen könnten, weil es doch auch am Vormittag sei, da könnten wir abends ja noch woanders auftreten, ja, er wisse, daß wir große Namen seien und das habe seinen Wert, aber seine Mittel seien halt begrenzt und was wir denn verlangen würden …
    Meine Octember-Erfahrung sagt mir, daß jetzt der heikle Moment gekommen ist. Setze ich unsere Gage auch nur um hundert Mark zu hoch an, dann sagt er, er rufe zurück, müsse das noch besprechen, wisse, daß der Preis angemessen sei, aber … und dann ruft er nie zurück, sondern jemand anders an, den er für billiger hält. Andererseits weiß ich nicht, wieviel er zahlen kann und möchte natürlich das Beste für uns herausholen. Ich entgehe diesem Dilemma meist, indem ich frage, was er sich denn leisten könne. Das ist natürlich nicht sehr geschickt, aber ich hasse diese Handelei sowieso. Ich bin Musiker, kein Verkäufer.
    Er sagt, also achtzehnhundert etwa, das ginge grade, mehr könne er leider nicht. Ich sage, na ja, um Ihnen aus der Patsche zu helfen, aber sagen Sie es nicht weiter, denn es ist ein Dumpingpreis. Gut, sagt er, schicken Sie mir also den Vertrag, ich freue mich undsoweiter.
    In den Vertrag schreibe ich, daß die Mehrwertsteuer extra geht, denn sonst hätten wir nochmal zweihundertfünfzig Mark verloren. Es bleiben sowieso nur etwa dreihundertfünfzig für jeden übrig, wenn Sprit, Miete, Essen und das Honorar für den Tontechniker abgezogen sind. Als der Vertrag zurückkommt, sehe ich mit Befriedigung, daß er das widerspruchslos geschluckt hat.
    In der Nacht zum zwölften November schlafen wir abwechselnd und gönnen uns zwei ausgiebige Raststättenstops. Der Abend in Olpe war gut bezahlt und schlecht besucht, die Veranstaltung wurde vom Amt für Jugend, Kultur und Öffentlichkeitsarbeit mit etwa neunzig Mark pro Besucher subventioniert. Jugend war gar keine da, Öffentlichkeit wenig, aber Kultur gab es reichlich. Darin sind wir gut. Immerhin gab es zwei analytische Amateure, die uns derart auf die Finger schauten, daß zumindest mir so manche Quintole zum heimlich verlängerten Vierteltakt geriet. Solche Zuhörer wirken wie der Bankangestellte, dessen Blick einen dazu bringt, die eigene Unterschrift auf dem Scheck nicht mehr hinzukriegen. Die kucken einem tatsächlich was weg.
    Heute in Waldshut wollen wir nicht zu früh da sein, nicht vor zehn, sonst riskieren wir, am Spielort einzuschlafen. Aufbau, Soundcheck und Konzert müssen nahtlos ineinander übergehen. Wir wollen auch dort keine Minute zu lange bleiben, denn wir sind uns ziemlich sicher, daß die Veranstaltung als Jazz-Frühschoppen angekündigt sein wird, und das bedeutet, daß eine Menge bärtiger Spätvierziger sich vor dem Mittagessen besaufen will und unter Jazz etwas ganz anderes versteht als wir.
    Genau so kommt es auch. Sogar noch schlimmer, denn wir können nicht einmal sofort nach unserem Auftritt abbauen, weil Frl. Müllers Viertele Stompers direkt nach uns spielen und die Bühne blockieren.
    Das bedeutet, daß wir nicht nur diesen Bierjazz der übelsten Sorte anhören müssen, sondern auch noch miterleben, wie die Stimmung steigt, weil das Niveau sinkt. Wir fangen so manchen Blick aus dem Publikum ein, der uns sagen soll: „ Das ist Musik. So muß das
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