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Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch
Autoren: Antonio Damasio
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erzeugen Pulse des Kern-Selbst, die in ihrer Summe ein autobiografisches Selbst ausmachen.
    Das Protoselbst mit den ursprünglichen Gefühlen und das Kern-Selbst bilden gemeinsam ein »materielles Ich«. Das autobiografische Selbst, dessen höhere Bereiche alle Aspekte der sozialen Persönlichkeit umfassen, besteht aus einem »sozialen Ich« und einem »spirituellen Ich«. Diese Aspekte des Selbst können wir in unserem eigenen Geist beobachten oder ihre Wirkungen am Verhalten anderer studieren. Darüber hinaus bilden Kern-Selbst und autobiografisches Selbst in unserem Geist aber auch einen Wissenden; mit anderen Worten: Sie statten unseren Geist mit einer weiteren Form der Subjektivität aus. Unter praktischen Gesichtspunkten entspricht das normale menschliche Bewusstsein einem Geistesprozess, bei dem alle diese Ebenen des Selbst mitwirken und eine Anzahl ausgewählter Geistesinhalte vorübergehend mit einem Puls des Kern-Selbst verknüpfen.

5.
    Weder die einfachen noch die robusten Ebenen des Selbst laufen in irgendeinem Areal oder einer Region des Gehirns ab. Der bewusste Geist erwächst aus der bruchlos gegliederten Tätigkeit mehrerer, manchmal sogar vieler Stellen im Gehirn. Zu den entscheidenden Strukturen, die für die Umsetzung der erforderlichen Funktionsschritte sorgen, gehören bestimmte Abschnitte des oberen Hirnstamms, eine Reihe von Kernen in der als Thalamus bezeichneten Region und spezifische, aber weit verstreute Regionen der Großhirnrinde.
    Das Bewusstsein erwächst letztlich nicht aus einer bestimmten Stelle im Gehirn, sondern es entsteht gleichzeitig als Produkt dieser vielen Regionen, ganz ähnlich wie die Aufführung einer Symphonie, die nicht auf die Tätigkeit eines einzelnen Musikers oder einer Musikergruppe im Orchester zurückgeht. Das Seltsamste an den oberen Ebenen der Bewusstseinsaufführung ist das offenkundige Fehlen eines Dirigenten vor Beginn der Vorstellung. Wenn sie dann aber läuft, ist der Dirigent da. Unter allen praktischen Gesichtspunkten wird das Orchester jetzt von einem Dirigenten geleitet, aber dieser Dirigent wurde durch die Aufführung – das Selbst – erschaffen und nicht andersherum. Der Dirigent wird von Gefühlen und einer Erzählvorrichtung des Gehirns zusammengestückelt, er ist aber deshalb nicht weniger real. Dass der Dirigent in unserem Geist existiert, lässt sich nicht leugnen, und man gewinnt nichts dadurch, dass man ihn als Illusion abtut.
    Die Koordination, auf die der bewusste Geist angewiesen ist, wird mit verschiedenen Mitteln erreicht. Auf der bescheidenen Ebene des Kerns beginnt sie in aller Stille als spontane Ansammlung von Bildern, die nacheinander in kurzen zeitlichen Abständen auftauchen: einerseits das Bild eines Objekts und andererseits das Bild des Protoselbst, das durch das Objekt verändert wird. Damit auf dieser einfachen Ebene ein Kern-Selbst entsteht, sind keine weiteren Gehirnstrukturen erforderlich. Die Koordination ist ein natürlicher Vorgang und ähnelt manchmal einem schlichten musikalischen Duo, das vom Organismus und dem Objekt gespielt wird; manchmal ähnelt es auch einem Kammermusikensemble, aber in beiden Fällen kommt es gut ohne Dirigenten aus. Nimmt die Zahl der im Geist verarbeiteten Inhalte aber zu, muss die Koordination auf andere Weise gewährleistet werden. In diesem Fall spielen verschiedene Gehirnregionen unterhalb der Ebene der Großhirnrinde und auch in ihr eine Schlüsselrolle.
    Der Aufbau eines Geistes, der die eigene, gelebte Vergangenheit sowie die vorhersehbare Zukunft beinhaltet, das Leben anderer in das Gewebe einfließen lässt und obendrein noch zur Reflexion in der Lage ist, ähnelt der Aufführung einer Symphonie von Mahler’schen Proportionen. Aber wie bereits angedeutet, besteht das eigentliche Wunder darin, dass Partitur und Dirigent erst mit der Entfaltung des Lebens Realität werden. Die Koordinatoren sind keine wundersamen, klugen Homunculi, die dafür zuständig wären, irgendetwas zu interpretieren. Und doch sind die Koordinatoren hilfreich, weil sie ein außergewöhnliches Medienuniversum aufbauen und den Protagonisten in dessen Mitte platzieren.
    Die große Symphonie namens Bewusstsein umfasst die grundlegenden Beiträge des Hirnstamms, die auf ewig an den Körper gebunden sind, und die ungeheuer weit gefasste Bilderwelt, die durch das Zusammenwirken der Großhirnrinde mit den subkortikalen Strukturen entsteht. Das alles ist harmonisch verwoben, bewegt sich ständig vorwärts und kann nur
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