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Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch
Autoren: Antonio Damasio
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Qualität der Kenntnisse und Ratschläge, die ein solcher bewusster Geist uns liefert, vielleicht besser beurteilen. Sind die Kenntnisse zuverlässig? Hat der Ratschlag Hand und Fuß? Nützt es uns, wenn wir verstehen, welchen Mechanismen der Geist unterliegt, der uns den Rat gibt?
    Bei der Aufklärung der neuronalen Mechanismen hinter dem bewussten Geist zeigt sich, dass unser Selbst nicht immer fehlerfrei ist und nicht die Kontrolle über alle Entscheidungen hat. Aber die Tatsachen rechtfertigen es auch, den falschen Eindruck abzulehnen, unsere Fähigkeit zu bewusstem Abwägen sei ein Mythos. Indem wir Licht in bewusste und unbewusste geistige Vorgänge bringen, verbessern wir unsere Aussichten, unsere Denkfähigkeit noch zu erhöhen. Das Selbst ebnet den Weg zu gezieltem Nachdenken und zum Abenteuer der Wissenschaft, zwei spezifischen Hilfsmitteln, mit denen wir allen irreführenden Empfehlungen des ununterstützten Selbst entgegenwirken können.
    Es wird die Zeit kommen, in der man in der Diskussion über die Verantwortung der Menschen – und zwar sowohl die allgemein-moralischen Aspekte wie auch die juristischen Gesichtspunkte – die Entwicklungen der Bewusstseinsforschung in Betracht ziehen wird. Vielleicht ist diese Zeit bereits gekommen. Dank reflexivem Denken und wissenschaftlichen Hilfsmitteln kann ein tieferes Verständnis der neuronalen Konstruktion des bewussten Geistes auch seinen Teil dazu beitragen, die Entwicklung und Ausgestaltung von Kulturen, den Spitzenprodukten des kollektiven bewussten Geistes, zu erforschen. In der Debatte über Nutzen und Gefahren kultureller Trends oder über Entwicklungen wie die digitale Revolution ist es von Nutzen, wenn wir mehr darüber wissen, wie unser vielseitiges Gehirn das Bewusstsein schafft. Wird beispielsweise die von der digitalen Revolution ausgehende fortschreitende Globalisierung des menschlichen Bewusstseins die Ziele und Prinzipien der grundlegenden Homöostase ebenso verfolgen, wie es die derzeitige soziokulturelle Homöostase tut? Oder wird sie sich von ihrer evolutionären Nabelschnur losreißen, sei dies nun gut oder schlecht? 18
    Wenn man den bewussten Geist zu etwas Natürlichem erklärt und ihn fest im Gehirn verankert, schmälert man damit weder die Bedeutung der Kultur für das Wesen der Menschen noch die Menschenwürde, und es bedeutet auch nicht das Ende von Rätsel und Erstaunen. Kulturen entstehen und entwickeln sich im Laufe vieler Generationen aus der kollektiven Anstrengung menschlicher Gehirne, und im Laufe dieses Prozesses gehen manche Kulturen sogar zugrunde. Sie brauchen Gehirne, die bereits durch frühere kulturelle Effekte geprägt wurden. Die Bedeutung der Kultur für die Entstehung des modernen menschlichen Geistes steht außer Frage. Ebenso wird die Würde dieses Geistes nicht dadurch geschmälert, dass man ihn mit der erstaunlichen Komplexität und Schönheit in Verbindung bringt, die sich in lebenden Zellen und Geweben findet. Im Gegenteil: Die Verknüpfung von Persönlichkeit und Biologie ist eine Quelle unendlichen Staunens und Respekts für alles Menschliche. Indem man den Geist zu etwas Natürlichem erklärt, löst man letztlich vielleicht nur ein Rätsel, doch dadurch könnte der Schleier über weiteren Rätseln gelüftet werden, die in aller Stille warten, bis sie an der Reihe sind.
    Ordnet man die Entstehung des bewussten Geistes in die Biologie- und Kulturgeschichte ein, eröffnet sich ein Weg, um den traditionellen Humanismus mit der modernen Naturwissenschaft in Einklang zu bringen. Wenn also Neurowissenschaftler das Erleben der Menschen in der fremdartigen Welt der Gehirnphysiologie und Genetik erforschen, wird die Würde des Menschen damit nicht nur aufrechterhalten, sondern sogar gestärkt.
    F. Scott Fitzgerald schrieb einmal die denkwürdigen Worte: »Wer als erster das Bewusstsein erfand, beging eine große Sünde.« Ich kann verstehen, warum er das sagte, aber seine Verdammung ist nur die halbe Geschichte; sie eignet sich für jene Augenblicke, in denen wir wegen der Unvollkommenheiten der Natur, die der menschliche Geist so gnadenlos offenlegt, entmutigt sind. Die andere Hälfte sollte aus Lob für eine Erfindung bestehen, die uns zu all den Schöpfungen und Entdeckungen befähigt, mit denen wir Verlust und Trauer gegen Freude und Jubel eintauschen. Die Entstehung des Bewusstseins öffnete den Weg zu einem lebenswerten Leben. Zu verstehen, wie es dazu kommt, kann diesen Wert nur vergrößern. 19
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