Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch
Autoren: Antonio Damasio
Vom Netzwerk:
erfährt die Homöostase eine Erweiterung in die soziokulturelle Sphäre. Beispiele für diese neuen Mittel der Regulation sind Justizsysteme, wirtschaftliche und politische Organisationen, Künste, Medizin und Technologie.
    Die dramatische Verringerung der Gewaltanwendung in Verbindung mit zunehmender Toleranz – eine unübersehbare Entwicklung der letzten Jahrhunderte – hätte ohne soziokulturelle Homöostase nicht stattfinden können. Das Gleiche gilt für den allmählichen Übergang von erzwungener Macht zur Macht der Überzeugung, die trotz aller Rückschläge das Kennzeichen hoch entwickelter gesellschaftlicher und politischer Systeme ist. Die Erforschung der soziokulturellen Homöostase kann ihre Anregungen in Psychologie und Neurowissenschaft finden, ihre Heimat haben ihre Phänomene aber in der Kultur. Man kann mit Fug und Recht sagen: Wer die Urteile des Obersten Gerichtshofes der USA, die Entscheidungen des US-Kongresses oder die Arbeitsweise der Finanzinstitutionen beschreibt, untersucht indirekt auch die Merkwürdigkeiten der soziokulturellen Homöostase.
    Sowohl die grundlegende Homöostase (die unbewusst reguliert wird) als auch die soziokulturelle Homöostase (die durch den reflektierenden, bewussten Geist erschaffen wird) wirken als Verwalter des biologischen Wertes. Die grundlegende und die soziokulturelle Form der Homöostase sind durch Jahrmilliarden der Evolution getrennt, und doch dienen sie, wenn auch in unterschiedlichen ökologischen Nischen, dem gleichen Ziel: dem Überleben der Organismen. Dieses Ziel wird im Fall der soziokulturellen Homöostase so erweitert, dass es auch das gezielte Streben nach Wohlbefinden einschließt. Dass für die Art, wie das menschliche Gehirn das Leben verwaltet, beide Formen der Homöostase und ihr ständiges Wechselspiel erforderlich sind, braucht nicht besonders betont zu werden. Aber während die grundlegende Form der Homöostase ein festes Erbe darstellt, das jedem Menschen von seinem Genom bereitgestellt wird, ist die soziokulturelle Variante ein empfindliches, noch im Werden begriffenes Werk, das für die meisten menschlichen Dramen, Torheiten und Hoffnungen verantwortlich zeichnet. Die Wechselbeziehungen zwischen den beiden Formen der Homöostase sind nicht auf das Individuum beschränkt. Wachsenden Hinweisen zufolge führen kulturelle Entwicklungen im Laufe vieler Generationen auch zu Veränderungen im Genom.

8.
    Betrachtet man den bewussten Geist unter dem Gesichtspunkt der Evolution von einfachen Lebensformen zu komplexen Organismen wie uns selbst, so fällt es leichter, in ihm etwas Natürliches zu sehen: Man erkennt, dass er das Ergebnis einer stufenweise zunehmenden Komplexität innerhalb des biologischen Rahmens ist.
    Das menschliche Bewusstsein und die Funktionen, die es ermöglichte (Sprache, erweitertes Gedächtnis, Vernunft, Kreativität, das ganze Gebäude der Kultur) können wir als Sachwalter des Wertes in unserem modernen, sehr geistbegabten, sehr sozialen Wesen betrachten. Und wir können uns eine lange Nabelschnur vorstellen, die den kaum von der Mutter entwöhnten, stets abhängigen bewussten Geist mit den Tiefen ganz elementarer, völlig un bewusster Regulatoren des Wertprinzips verbindet.
    Die Geschichte des Bewusstseins kann man nicht auf konventionelle Weise erzählen. Das Bewusstsein entstand wegen seines biologischen Wertes als Beitrag zu einer effizienteren Werteverwaltung. Aber das Bewusstsein hat weder den biologischen Wert noch den Prozess der Bewertung erfunden . Erst im Geist des Menschen hat das Bewusstsein den biologischen Wert aufgedeckt und die Entwicklung neuer Mittel und Wege zum Umgang damit ermöglicht.

Leben und der bewusste Geist
     
    Ich würde es keinem Leser verübeln, wenn er sich fragt, ob es überhaupt vernünftig ist, ein ganzes Buch der Frage zu widmen, wie ein Gehirn einen bewussten Geist hervorbringt. Im Gegenteil: Sinnvollerweise sollte man sich fragen, ob Kenntnisse über die Gehirntätigkeiten, die hinter Geist und Selbst stehen, überhaupt von praktischer Bedeutung sind und nicht nur unsere Neugier auf das Wesen des Menschen befriedigen sollen. Haben sie tatsächlich Auswirkungen auf unser Alltagsleben? Ich bin aus vielen großen und kleinen Gründen überzeugt, dass die Antwort Ja lautet.
    Wenn wir verstehen, unter welchen Umständen der bewusste Geist in der Geschichte des Lebendigen entstanden ist und insbesondere wie er sich in der Geschichte der Menschheit entwickelt hat, können wir die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher