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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz
Autoren: Bernhard Schlink , Walter Popp
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davonzumachen.
    Die erste Explosion schüttete eine Kaskade von Glassplittern über die Straße. Ich griff nach der Hand des kleinen Jungen, aber der riß sich los. Einen Moment war ich wie gelähmt: Ich spürte keine Verletzung, hörte trotz des weiterklirrenden Glases eine große Stille, sah den Jungen rennen, auf den Glassplittern ausrutschen, sich noch einmal fangen, nach zwei schiefen Schritten endgültig fallen und, von seiner Bewegung vorangetrieben, sich überschlagen.
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    Dann kam die zweite Explosion, der Schrei des kleinen Jungen, der Schmerz im rechten Arm. Dem Knall folgte ein gewalttätiges, gefährliches, bösartiges Zischen. Ein Geräusch, das mich in Panik versetzte.
    Den Sirenen, die in der Ferne einsetzten, verdanke ich, daß ich handeln konnte. Sie weckten die im Krieg eingeübten Reflexe des Flüchtens, Helfens, Schutzsu-chens und -gebens.
    Ich rannte auf den Jungen zu, zog ihn mit meiner linken Hand hoch, zerrte ihn in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Seine kleinen Füße konnten nicht Schritt halten, aber er strampelte und ließ nicht los.
    »Los, Bübchen, lauf, wir müssen hier weg, mach nicht schlapp.« Ehe wir um die Ecke bogen, sah ich zurück.
    Wo wir gestanden hatten, wuchs eine grüne Wolke in den bleigrauen Himmel.
    Den Sanitätswagen, die vorbeirasten, winkte ich vergebens. Am Tor 1 nahm sich der Pförtner unser an. Er kannte den kleinen Jungen, der sich blaß, verschrammt und verschreckt an meiner Hand festhielt.
    »Richard, um Gottes willen, was ist denn mit dir passiert? Ich ruf gleich deinen Großvater.« Er ging zum Telefon. »Und für Sie hol ich am besten die Sanität. Das sieht böse aus.«
    Ein Glassplitter hatte den Arm aufgerissen, und das Blut färbte den Ärmel der hellen Jacke rot. Mir war flau. »Haben Sie einen Schnaps?«
    An die nächste halbe Stunde erinnere ich mich nur schwach. Richard wurde abgeholt. Sein Großvater, ein großer, breiter, schwerer Mann mit kahlem, hinten und 37
    an der Seite glattrasiertem Schädel und buschigem wei-
    ßem Schnurrbart, nahm den Enkel mühelos auf den Arm. Die Polizei versuchte, in das Werk zu kommen und den Unfall zu untersuchen, wurde aber zurückgewiesen. Der Pförtner gab mir noch einen zweiten und einen dritten Schnaps. Als die Sanitäter kamen, nahmen sie mich mit zum Werksarzt, der meinen Arm nähte und in eine Schlinge legte.
    »Sie sollten noch ein bißchen im Nebenzimmer ab-liegen«, sagte der Arzt. »Raus kommen Sie jetzt nicht.«
    »Wieso komme ich nicht raus?«
    »Wir haben Smogalarm, und der gesamte Verkehr ist unterbunden.«
    »Wie habe ich das zu verstehen? Sie haben Smogalarm und verbieten, das Zentrum des Smog zu verlassen?«
    »Das verstehen Sie ganz falsch. Smog ist ein meteorologisches Gesamtereignis und kennt nicht Zentrum oder Peripherie.«
    Ich hielt das für völligen Unsinn. Was es sonst auch für Smog geben mochte – ich hatte eine grüne Wolke gesehen, und die wuchs, und sie wuchs hier auf dem Werksgelände. Auf dem sollte ich bleiben? Ich wollte mit Firner reden.
    In seinem Büro war ein Krisenstab eingerichtet worden.
    Durch die Tür sah ich Polizisten in Grün, Feuer-wehrleute in Blau, Chemiker in Weiß und einige graue Herren von der Direktion.
    »Was ist eigentlich passiert?« fragte ich Frau Buchendorff.
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    »Wir hatten eine kleine Panne auf dem Gelände, nichts Ernstes. Nur haben die Behörden dummerweise Smogalarm ausgelöst, und das hat ziemliche Aufregung gegeben. Aber was ist mit Ihnen passiert?«
    »Ich hab bei Ihrer kleinen Panne ein paar kleine Kratzer abbekommen.«
    »Was hatten Sie denn dort … Ach, Sie waren auf dem Weg zu Schneider. Er ist übrigens heute gar nicht da.«
    »Bin ich der einzige Verletzte? Hat es Tote gegeben?«
    »Aber wo denken Sie hin, Herr Selb. Ein paar Erste-Hilfe-Fälle, das ist alles. Können wir noch etwas für Sie tun?«
    »Sie können mich hier rausschaffen.« Ich hatte keine Lust, mich zu Firner vorzukämpfen und mich mit
    »Grüß Sie, Herr Selb« begrüßen zu lassen.
    Aus dem Büro kam ein Polizist mit diversen Rangab-zeichen.
    »Sie fahren doch nach Mannheim rüber, Herr Herzog, würden Sie bitte Herrn Selb mitnehmen? Er hat ein paar Kratzer abbekommen, und wir wollen ihm nicht zumuten, noch länger hier zu warten.«
    Herzog, ein markiger Typ, nahm mich mit. Vor dem Werkstor standen einige Mannschaftswagen und Reporter.
    »Vermeiden Sie doch bitte, sich photographieren zu lassen mit dem Verband.«
    Ich hatte überhaupt keine Lust, mich
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