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Seit jenem Tag

Seit jenem Tag

Titel: Seit jenem Tag
Autoren: Eleanor Moran
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deren Betrachtung ich mir Aufschluss erhoffte. Er sah weniger gut aus, als ich erwartet hatte, war groß und hatte schütteres Haar und wirkte auf jedem Foto wie das blühende Leben. Er war ein wenig älter als wir, sah aber wie die Leute aus, die bereits als Vierzigjährige geboren werden. Sie war perfekt geschminkt, und das Lächeln geriet ihr nie außer Kontrolle, doch ich hätte schwören können, dass es nicht die gleiche ungetrübte Freude verriet wie seines.
    Er war Engländer und sehr britisch, sie zogen allerdings seiner Arbeit wegen in die USA . Die Tatsache, dass sie ausgewandert war, machte alles einfacher – da der Kontakt zu allen nachließ, konnte ich mir einreden, dass unsere Entfremdung damit zusammenhing. Das Leben ging weiter. Anfangs tat es weh, dass sie nicht mehr da war, aber schließlich akzeptierte ich das. Doch vergessen konnte ich sie nicht, und die Lücke, die sie hinterließ, war immer präsent, trotz meiner anhaltenden Verärgerung. Tatsächlich bewies meine Wut, wie wichtig sie mir noch war – und wenn ich eins mit Sicherheit weiß, dann dass das Gegenteil von Liebe nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit ist.
    Bleiben die Menschen, die wir lieben, immer ein Teil von uns, selbst wenn sie nicht mehr Teil unseres Lebens sind? Mir gefällt der Gedanke, dass sie es tun – dass jeder, den wir aus tiefstem Herzen lieben, einen Teil von uns für immer verändert, wie Wellen, die gegen einen Fels schlagen, bis dessen Gestalt unauslöschlich verändert ist. Oder ist dies nur Wunschdenken, ein vergeblicher Versuch, der Wahrheit aus dem Weg zu gehen, dass einem, egal, wie sehr man einen Menschen liebt, dieser dennoch entrissen werden kann? Liebe und Verlust liegen so nah beieinander – das eine trägt das andere schon in sich.
    James klopft an meine Tür, als ich noch über die Wahl meiner Schuhe nachdenke. Mein am wenigsten abgewetztes Paar sind schwarze Wildleder-Stilettos, die mir für diesen Anlass nicht ganz angemessen zu sein scheinen. Heute fällt es mir viel leichter, mich auf derartige Banalitäten zu konzentrieren, als mich der Realität zu stellen.
    »Wir sollten aufbrechen«, ermahnt er mich sanft.
    Ich schlüpfe in meinen rechten Schuh und schiebe den Riemen durch die fummelige Silberschnalle. Ich schaffe das nicht. Schwer lasse ich mich aufs Bett fallen.
    »Sag mir noch mal, warum wir das tun.«
    »Weil du meintest, du möchtest dich verabschieden.«
    Ich blicke zu ihm hoch. Er ist ganz blass vor Sorge, und ich frage mich, ob ich ihm das wirklich zumuten kann. In seinem Gesicht suche ich nach Antworten auf die Fragen, die mir durch den Kopf gehen.
    »Ich habe einfach das Gefühl, dass ich, wenn ich nicht hingehe, niemals richtig daran glauben werde, dass sie nicht mehr unter uns ist. Es wird sich unvollständig und schrecklich anfühlen und … Du brauchst nicht mitzukommen, wenn du das nicht willst. Es ist ja nicht so, dass du sie besonders mochtest.«
    »Es geht nicht darum, ob ich sie mochte oder nicht, Livvy. Du gehst da jedenfalls nicht allein hin. Zieh deine Schuhe an. Ich hole dir deinen Mantel.«
    Ich lächele ihn dankbar an. Wie froh bin ich doch, ihn zu haben!
    »Sind die zu nuttig?«, frage ich mit Blick auf meinen beschuhten Fuß, weil ich nicht möchte, dass er mein Gesicht sieht. »Obwohl mir das eigentlich egal ist.«
    Aber das ist es verrückterweise nicht: Ich bin tief verunsichert wegen all der Leute, die ich seit Jahren nicht mehr richtig getroffen habe. Als ich Sally verlor, verlor ich auch einen ganzen Haufen Freunde, die in ihr Lager wechselten und es sich dort gemütlich machten. Sie sind alle über Facebook befreundet, schicken sich eifrig Nachrichten und kommentieren gegenseitig ihre Fotos, während ich auf der Tribüne verweile und mich ärgere, dazu genötigt zu sein, die Beobachterin zu spielen. Es hätte keine Lager geben dürfen und auch nicht das Gefühl, als hätten wir eine Schlammschlacht hinter uns, aber bei Sally bekam alles ganz schnell einen Touch von Hollywood.
    »Die sind nicht zu nuttig, aber … sie sind vielleicht keine gute Wahl für einen Friedhof, nicht nachdem es so viel geregnet hat.«
    Meine Hand fliegt an meinen Mund, da mich eine neue Schockwelle überrollt. Ich war bei zwei Beerdigungen meiner Großeltern gewesen, hatte um sie getrauert und dann wehmütig akzeptiert, dass sie nicht mehr da waren, aber das … das hier ging über meine Kräfte. Einen kurzen Augenblick lang überlege ich, die Schuhe auszuziehen, mich zusammengerollt
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