Sein eigen Fleisch und Blut: Thriller (German Edition)
morgen kümmern.
4
Bei ihrer ersten Begegnung hatte Colin Anderson die neue DCI als eine harte und leicht reizbare Frau eingeschätzt. Inzwischen arbeitete er seit einem Monat mit ihr zusammen, seine Meinung hatte er jedoch nicht im Geringsten revidiert. Costello hatte gesagt, auf Guantanamo hätten sie an ihr bestimmt ihre helle Freude, und Colin hatte gelacht. Im Augenblick dagegen war ihm nicht nach Lachen zumute.
»Immer nur herein, DI Anderson.« Ein verkniffenes Lächeln huschte über das Gesicht von Rebecca Quinn. Wie gewohnt trug sie ihr klassisches marineblaues Kostüm und hatte das rote Haar straff nach hinten gebunden. Die Ansammlung von rosa Fleckchen auf ihrer Nase erinnerte Anderson an diese Art Ameisen, die sich unter die Haut gruben und Menschen bei lebendigem Leib auffraßen.
Er trat in das Büro der DCI ein, das inzwischen weiß gestrichen und mit einem ultramodernen Wasserspender zu ihrem persönlichen Gebrauch ausgestattet war. Die Fenster waren geputzt, der quietschende Lederstuhl war gegen einen neuen ausgetauscht worden, und der Farn auf der Fensterbank war wundersamerweise zu neuem Leben erwacht und gedieh prächtig. Das behagte Anderson nicht. Genauso wenig wie der gebräunte, schlanke Oberschenkel, den die langbeinige Brünette zur Schau stellte, die neben dem Farn auf der Fensterbank hockte. Er nickte der Frau zu und gab vor, ihre Beine nicht bemerkt zu haben.
»DI Anderson, schön, dass Sie sich zu uns gesellt haben – doch noch .« Quinn sah vielsagend auf die Uhr. Anderson wusste nicht, dass er zu spät war, daher entschuldigte er sich nicht. Was die Brünette betraf, so wurde sie ihm nicht vorgestellt, und er würde auch nicht nach ihr fragen. Der Ruf, eine Vorliebe für Psychospielchen zu haben, eilte der neuen DCI voraus.
»Guten Tag, Ma’am«, grüßte er Quinn und wiederholte es der Brünetten gegenüber, die ihm zur Antwort ein kurzes Lächeln schenkte. Quinn beachtete den Gruß nicht und setzte sich hinter ihren Schreibtisch, schob die Ärmel ihrer Jacke hoch und zog die Spange straff, die ihr Haar hielt. Zufrieden öffnete sie einen braunen Ordner und strich den Kniff in der Mitte glatt: rauf, runter, rauf. Anderson ließ das Schweigen über sich ergehen, allerdings fiel es ihm zunehmend schwer, die langen Beine hinter sich zu ignorieren. Beide Frauen gehörten zum gleichen Typ – schlank, gut gekleidet, gepflegt, durchsetzungsfähig. Er wusste nicht recht, was er von der Situation halten sollte, und wünschte sich ein wenig mehr Durchblick.
Quinn sah auf und reichte ihm eine Akte. »Sind wir schon mit Luca Scott weitergekommen? Hat Costello vom Krankenhaus grünes Licht, mit der Mutter zu sprechen? Ich habe eine Besprechung einberufen, weil ich dachte, es würden neue Informationen vorliegen.«
Anderson entschied sich für aufmerksame Zurückhaltung. »Tut mir leid, aber als ich zuletzt mit DS Costello gesprochen habe, gab es noch keine Neuigkeit.« Er öffnete den Ordner. »Ich denke, wir sollten vorsichtig sein und betonen, dass sie keineswegs eine ›schlechte‹ Mutter ist, sondern sich lediglich medizinisch in schlechter Verfassung befindet.« Er hielt inne und betrachtete die drei Fotos, die erst vor Kurzem entwickelt worden waren und stark nach Chemikalien rochen. Auf dem ersten lächelte ein blonder Junge, Luca, in die Kamera und streckte einem Polizeipferd einen Apfel hin. Das Pferd hatte den riesigen Kopf gesenkt und schnappte sich gerade den Apfel mit dem grauen Maul und verfehlte nur knapp die Finger. Das nächste Foto war eine Nahaufnahme desselben Jungen, und auf dem dritten sah man sogar nur das Gesicht. Anderson deckte Lucas Lächeln mit der Hand ab. »Er hat Angst vor diesem Tier«, beobachtete er. »Er lächelt nur mit dem Mund. Die Augen wirken verängstigt.«
»Aber er ist tapfer«, meinte Miss Traumbeine auf der Fensterbank und nickte nachdenklich.
Anderson reichte die Fotos zurück. Kurz dachte er daran, wie ängstlich Peter vor einiger Zeit gewesen war, als im Zoo eine bockige Ziege herumgelaufen war. »Sie sollten außerdem klarstellen, dass Lorraine Scott ihre Medikamente auf Rezept nahm. Sie ist psychisch krank und kam gerade aus dem Krankenhaus, wo sie sich wöchentlich eine Spritze abholt. Auf dem Heimweg erlitt sie einen …« Er zögerte und suchte nach dem richtigen Wort. »… einen Anfall im Joozy Jackpot.«
Die Brünette zog, wie ihm auffiel, eine Augenbraue hoch.
»Das ist eine kleine Spielhölle in der Byres Road«,
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