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Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927

Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927

Titel: Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927
Autoren: Willy Seidel
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verschwand spurlos.
    Boggi rief vergeblich; er war schier untröstlich, bis der Professor Notiz nahm und sich umwandte. – »Ja, ja«, sagte er. »Seien Sie ruhig; es hat nichts auf sich, daß der Kleine Ihnen entlaufen ist. – Er gehört auch zu den Illusionen, ist also unsterblich und folglich immer da, wenn Sie ihn brauchen. Jetzt habe ich die Führung übernommen, und mir als Philologen dürfte es mit Fug zustehen, Ihren Cicerone abzugeben.«
    »Ich bin zum Hüter bestellt«, fuhr er fort. »Ich bin Klassiker, wie Sie ja auch an meinem Äußeren sehen« – er sah fast verschämt an sich nieder – »und demgemäß Verwalter aller großen Begriffe, an die sich Illusionen knüpfen. Sehen Sie, die Sprache, vornehmlich die griechische, ist eine Bildergalerie; sie enthält viel traditionelle, eingerahmte Wörter, die ich vor Verallgemeinerung schützen muß. – Ja, ja, die Verallgemeinerung!« summte er. »Da geht es dann schnell bergab mit so einer Illusion. Wenn sie nicht im vornherein genug Knochenmark hat, verkümmert und verblaßt sie, und ich muß alsdann mein stärkstes Brillenglas nehmen, um ihr Dasein zu beglaubigen.«
    Der Mondschein erzeugte eine Tageshelle. Vom tiefschwarzen Samt der Schatten gesprenkelt, öffnete sich vor ihnen ein Heckengarten mit glitzernden Bassins. Fontänen warfen stille, zerstäubende Perlengarben empor, und irgendwo in der Ferne sang ein Vogel eintönig und lockend. Im Umkreis, an den Mündungen verdämmernder Laubengänge, standen dorische Rundtempelchen von schimmerndem Marmor, und auf den Wiesen ergingen sich, verschiedengestaltet wie ein buntester Strauß, Abbilder von Menschen, vervollkommnet gleich leuchtenden Blumen von Fleisch, in köstlicher Form, immer neu erdacht und ausgestaltet – ein lautlos überwältigender Hymnus auf die Harmonie der Bewegung.
    »Hier sehen Sie«, sprach der Professor, »die Auslese der Illusionen; der Typus ›Mensch‹ ist zart und kunstvoll verwertet, um Wesen von großer Harmonie zu zeugen. So eine Illusion ist ungreifbar, unfaßlich; deshalb gibt es auch keine Persönlichkeiten hier, sondern nur das, was ihr ›Seelen‹ nennt, eben die Quintessenz großer Deckwörter, vage Vorstellungen solcher Begriffe. Denn die Begriffe selbst wurden noch nie konkret, und das ›Ding an sich‹ ist hier äußerst verpönt. Alles, was Sie wollen: Wörter, die auf dem Daunenpfühl der Überlieferung schlummern; traditionsstolze, einsame Begriffe, von sterbenden Helden oder großen Staatsleuten mit Vorliebe verwendet; auch Familienwörter, die mit einem Händedruck vererbt werden, Wörter unter Glas und Wörter, die mit jedem Frühling neu werden; alle diese gibt es hier, werden hier aufbewahrt, gehütet, gepflegt.«
    »Und welche Liebschaft haben Sie, Herr Professor?« fragte Boggi, in das silberne Gewimmel starrend.
    Der Gelehrte lächelte fein; er bekam Wasser in die Augen. »Sie werden das schwer verstehen; ich habe abgeschlossen mit jugendlichen Begriffen, und mein Herz erwärmt sich nur mehr am Abstrakten – es ist, verzeihen Sie, eben ein echtes Philologenherz! – ›Tugend‹ und ›Freundschaft‹ sind meine Lieblinge. Unentbehrlich ist mir auch die liebliche ›Agape‹, ja ich kann wohl sagen, daß sie mir im Grunde bei allem die Hauptsache ist.«
    »Also goutieren Sie auch den kleinen Abkömmling dieser drei Mütter, der mich hierhergebracht hat?«
    »Nun freilich, freilich«, sagte der Professor gedehnt und ehrfurchtsvoll (und doch mit einer sonderbar verschmitzten Miene): »Von dem plaudern wir noch später. – Die bunten, koketten Leutchen, die hier in den Laubengängen auf und nieder laufen, sind meist nur Bastarde, von heterogenen Begriffen gezeugt, ephemere Geschöpfe, Schlagwörter. Doch nun«, schloß er, »müssen Sie mich entschuldigen, wenn ich etwas mit dem Sprechen aussetze. Es herrscht, wie Sie ja wohl schon gemerkt haben werden, hier im Himmel mehr der Brauch des Betrachtens.« Beide gingen schweigend weiter. Als sie an einem der Tempelchen vorüberkamen, schritt der Gelehrte – er nahm sich sonderbar genug aus: schwarz und sinnlos in all der Farbenheiterkeit – zwischen den Säulen hinein, fachte das goldene Flämmchen, das in der Mitte brannte, sorgsam an und fuhr mit den runzeligen Fingern an der Kannelierung herab, wobei eine einzige, kleine, gerührte Träne sein Brillenglas trübte. Er nahm es herab und zwinkerte, kurzsichtig wie er war, mit einer drolligen Grimasse gleich einem geblendeten Kauz, bis er das Glas
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