Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927

Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927

Titel: Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927
Autoren: Willy Seidel
Vom Netzwerk:
die langsam dahinschritten, belebt war. Und doch, wenngleich alle Umrisse dunkel erschienen, leuchteten die Gesichter in einem milden Schein. Besonders die Stirnen und Augen, die sich aus stummer Grübelei erhoben, um dem scheuen Jüngling einen Blick zu schenken. Jeder hielt sein Spielzeug in der Hand, das doch gleichsam ein Attribut für ihn bedeutete; mit zärtlicher und behutsamer Andacht trugen sie es bald auf flacher Handfläche, bald unter dem Arm. Boggi erkannte die Spitzen der Menschheit in ihnen wieder, die größten unter den Produktiven, und schrak fast zusammen, als er auch hier, irgendwo, das grollende Kinn unter dem Dreispitz gewahrte. Doch seine Erinnerung ward hold enttäuscht: der General saß unter einem Holunderstrauch und blies auf einer Kindertrompete.
    Die Musiker trugen Triangeln, die im Gehen leise schütterten; die Dichter skandierten vor sich hin und wiederholten oft ein einzelnes Wort, dessen Klangschönheit ihnen behagen mochte; und dann machten sie Notizen in winzige Büchlein und nickten einander zu. Die Philanthropen trugen Büchschen mit Impfserum und steckten zuweilen besorgt die Nase hinein; die Philosophen hielten Pyramiden von Papierschachteln und trippelten vorsichtig und in großer Angst, ihr System möchte aus den Fugen gehn. Die Theologen führten wollige Schäflein an seidenen Bändern – sie waren am dünnsten gesät; einer unter ihnen hatte sich Wundmale an beiden Händen beigebracht, die er abwechselnd düster betrachtete. Die Maler gingen wie Nachtwandler, ohne Attribute, doch in köstlichen Kleidern, und die Bildhauer schritten in dem Schwarm ihrer eigenen belebten Werke dahin.
    Und da sah Boggi, wie sich eine Gasse bildete, und faßte sich ein Herz. Der alte Herr im Schlafrock kam, die andern überragend, sein Gänseblümchen im Knopfloch des Aufschlags, die Straße herab. Boggi nahte sich mit einer tiefen Verbeugung.
    »Meister!« sprach er laut. »Erlauben Sie . . .« Goethe ging weiter. Boggi war bestürzt; dann rief er:
    »Erhabner Fürst der Dichtung!«
    Goethe drehte sich nicht um; einige Leute blieben stehn und kicherten leise. Boggi schlich dem raschelnden Schlafrock nach. Dann flüsterte er:
    » Exzellenz! «
    Dies wirkte. Der Schlafrock hielt an und drehte sich langsam um. Dann sank er eine halbe Elle tiefer, und Boggi sah zwei köstlich gezierte Kothurne neben ihm stehen. Die Augen blickten ihm aus der Nähe ins Gesicht, diese braune, von tiefem Glanzlicht geschmückte Pupille, die, von vergilbtem Weiß umgeben, wie ein Zauberspiegel leuchtete. Die Augen blickten lange, lange, ohne Wimpernzucken, und Boggi fühlte sich durchschaut; jedes Geheimnis schien restlos preisgegeben, restlos erkannt. Doch er fühlte auch, daß diese Augen nicht urteilten, sondern nur sahen , hinter alle Dinge und Begriffe, und doch immerdar menschlich und gütig blieben. Und eine metallne, sonore Stimme erklang:
    »Womit kann ich Ihnen gefällig sein?«
    »Ich möchte zum Chef, Exzellenz. Ich bitte, mich zu empfehlen.«
    Eine Bewegung ging durch die Lauschenden. Das Wort »Chef« schien zu gefallen. Jeder sah den andern an und lächelte. Goethe blieb ernst.
    »Ei, und womit legitimieren Sie sich?«
    »Ich habe geliebt!«
    Goethe schwieg eine Weile, dann sagte er: »Das war kurz und bündig. Eine Passion, das genügt. Und welcherlei Imagination besitzen Sie, mein Werter?«
    Boggi sperrte den Mund auf. Goethe begann zu schmunzeln; dann fügte er bei: »Vom ›Chef‹, versteht sich.«
    Boggi sammelte sich. »Das ist verschieden, Exzellenz. Drunten besaß ich wohl nur die eine: den Kuß; doch das ist wohl eine der passendsten Imaginationen.«
    »Er ist immerhin ein vortreffliches Symbolum«, sprach der alte Herr. »Er ist ein goldnes Schlößlein für End- und Anfangsring der großen Kette. Sie waren kein Jüngling, der den Himmel stürmen wollte, dünkt mich. Doch suchen Sie – unbeschadet! – des Guten und Schönen hier teilhaftig zu werden. Lassen Sie sich ganz von den Erscheinungen erfüllen, die so unablässig drängen; und Sie werden den Einzelheiten Ihre Liebe zuwenden. Alsdann wird sich Ihnen das Größte – der Chef – im Kleinsten offenbaren.« Er streichelte sein Blümchen, drehte sich langsam um, bestieg seine Kothurne und verschwand, während die andern sich gleichfalls zerstreuten.
    Boggi blieb etwas enttäuscht und ernüchtert zurück. »Das wäre nun die Begutachtung«, dachte er (sie kam ihm ein wenig gemeinplätzig vor). »Aber der Sache ist damit wenig gedient;
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher