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Seidel, S: Elfenzeit 16: Bestie von Lyonesse

Seidel, S: Elfenzeit 16: Bestie von Lyonesse

Titel: Seidel, S: Elfenzeit 16: Bestie von Lyonesse
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nichts weiter zu hören als das Meer. Auch auf den Begleitbooten hatten sie die Dieselmotoren ausgemacht, um besser horchen zu können. Und die Delfine waren abgetaucht wie Boten, deren Auftrag erledigt war. Zurück blieb nur das gleichmäßige Rauschen der Wellen; der sanfte Schlag, mit dem sie an die Bordwände trafen, das Gluckern beim Ablaufen.
    Nach und nach überwanden die ersten Männer ihren Schrecken, tauschten fragende Blicke mit ihrem Kapitän. Hatten sie sich das eingebildet? John wünschte es fast – doch da kam es schon wieder! So laut und deutlich, dass kein Raum blieb für Zweifel, keine Wahl, das Geräusch als etwas anderes zu interpretieren als das, was es war.
    Glockengeläut.
    Mitten auf dem Meer.
    Es kam von unten, aus der lichtlosen Stille tief unter den Wellen. Von einem Ort, an dem eigentlich nichts hätte sein dürfen außer Fische, Algen und Wasser. Und trotzdem gab es dort etwas anderes. Etwas, das jedes Jahr scharenweise Menschen an die kornische Küste lockte – Wissenschaftler, Touristen, Schatzsucher. Alle aus unterschiedlichen Beweggründen, alle vereint in der Hoffnung auf den einen großen, fantastischen Fund: das versunkene Königreich von Lyonesse.
    Sie würden es nicht finden, egal wie viele Tauchexpeditionen sie starteten und historische Quellen nach Hinweisen zum genauen Standort des Reiches durchsuchten. Lyonesse gehörte schon lange zur Elfenwelt, und um
die
aufzuspüren, bedurfte es mehr als Forschungsbooten und alter Dokumente.
    Jeder in Cornwall wusste das. Und auch, dass diese verwunschenen Glocken nie ohne Grund erklangen. Ihr Läuten war meist eine Warnung – die freundliche Geste einer Welt an eine andere, die es wert war, gerettet zu werden. Wie damals zum Beispiel, am 1. September 1939, als durch das große Transatlantik-Kabel der Fernmeldegesellschaft
Cable and Wireless
am Land’s End die Meldung nach New York lief: »Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen.« Damals hatte Lyonesse mit einem Glockengeläut auf den zu jener Stunde noch nicht im Radio vermeldeten Kriegsausbruch reagiert, das bis in die kornischen Hafenstädte zu hören gewesen war.
    John selbst hatte das nicht erlebt. Aber sein Vater war dabei gewesen, und John konnte sich noch gut an die Geschichten erinnern, die der alte Broom seinen Buben erzählt hatte. Über den Krieg und über Lyonesse. Abends am prasselnden Kaminfeuer, wenn der Seewind ums Haus zog und an den Fensterläden rappelte.
    Dad hat mal zu uns gesagt: Was sich vor den Augen verbirgt, ist trotzdem da, und es wird euer Freund sein, solange ihr an es glaubt, ohne zu fragen. Ohne zu zweifeln. Also werdet erwachsen, Jungs, aber verliert diesen Glauben nicht! Niemals!
    Nachdenklich blickte John auf die rauschenden Wellen mit ihrer Krone aus Abendrot und ihren Geheimnissen in dunkler Tiefe. Das Glockengeläut war zu deutlich hörbar, um es als Einbildung abzutun. Und kornische Fischer hatten schon öfter Gegenstände in ihren Netzen gehabt, die da eigentlich gar nicht hatten sein dürfen, so weit vom Land entfernt: Türen, Fensterscheiben, Trinkbecher …
    Irgendetwas verbarg sich dort unten, das stand außer Frage. War es jenes legendäre Königreich, das im fünften Jahrhundert einem Seebeben zum Opfer gefallen war? Wollte Lyonesse die Grafschaft warnen? John zweifelte nicht daran. Er hätte nur gern gewusst, worauf sich diese Warnung bezog.
    Hoffentlich ist es kein Sturm!
, dachte der Fischer, wandte sich von der Reling ab und ging zurück an die Arbeit.
    Es war kein Sturm. Wenige Stunden bevor John Broom den Dieselmotor der
Pelleg
wieder anwarf, um – wenn auch nicht gerade mit gutem Gefühl – die Fangfahrt fortzusetzen, war etwas in Cornwall aufgeschlagen. Etwas Fremdes. Böses.

1 Schatten auf dem Heidehraut
    Goldene Herbsttage im Oktober waren in Cornwall eher selten. Es regnete oft, und der Seewind schaffte es um diese Jahreszeit schon ziemlich weit landeinwärts mit seiner Kälte und dem unangenehmen, leisen Dauerpfeifen.
    Doch es gab Ausnahmen. Manchmal vergaß das als
typisch englisch
beschimpfte Inselwetter kurzfristig, was von ihm – besonders in Touristenkreisen – erwartet wurde, und kam als wahre Wonne daher: strahlend blauer Himmel, warme Oktobersonne, klare Sicht von den Küsten bis nach Devon, der Grafschaft nebenan.
    An solchen Tagen konnte man in Cornwall wandern, wohin man wollte, und kehrte nie mit etwas anderem zurück als einem Lächeln. Egal, ob das Ziel ein Ort der Sagen und Legenden war wie die Slaughter
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