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Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)

Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)

Titel: Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)
Autoren: Michael Jürgs
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alle besser, weil alles besser war oder die Klugen klüger oder die Blöden nicht gar so blöd.
    Man könnte tatsächlich recht haben mit der Vermutung, dass es damals in der Gesellschaft kaum weniger Blöde gab als heute. Die fielen nicht weiter auf. Jedes Dorf hatte seine eigenen Trottel. Die vom Nachbardorf lernte man nie kennen.
    Eine Massenbewegung, vernetzt durch eigens für sie produzierte Zeitungen, Zeitschriften und TV-Programme, sind die als Individuen unauffälligen und ungefährlichen Seichtmatrosen erst seit dem Start des privaten Fernsehens, der Stunde null im Jahre 1984. Auf Kiel gelegt wurden die Kommerzdampfer von Politikern, die sich von einer ihnen dankbaren Masse massenhaften Zuspruch für ihre Partei versprachen, die zufällig CDU hieß. Gesteuert wurden die fröhlichen Wellenbrecher von ausgebufften Blödmachern, die sich als Pioniere fühlten.
    Wichtiger als irgendwelche Inhalte war ihnen von Anfang an, für die angebaggerte Masse Blödköpfchen zu zeugen und die populär zu machen. Profis wie sie wussten, dass jedes Rudel einen Leitwolf braucht, jede Gruppe einen Führer und viele Gruppen entsprechend viele Helden. Bis dahin hatten die Blöden keinen Überblick darüber, wie viele sie
waren. Sie ließen höchstens im engsten Freundes- und Familienkreis die ihnen vertraute dumme Sau raus. Erst an dem Tag, an dem sie eine für die Werbung relevante Zielgruppe wurden, begann ihr Aufstieg. Seichtes gibt es inzwischen für jedes Alter. Die Jungen treffen sich bei Castings oder bei Übertragungen der für sie produzierten Freakshows, ihre Eltern und Großeltern, die Alten, bei Festen der Volksmusik.
    Zurück zum Geheimplan.
    Die Lieblinge der Unterschicht ausgerechnet auf den Sendern der geistigen Oberschicht, Arte und 3sat, gegeneinander kämpfen zu lassen wäre schon deshalb unter strategischen Gesichtspunkten betrachtet ein genialer Einfall, weil die Grundbedingungen für spannende Unterhaltung erfüllt sind – durch Verfremdung mit genau den Inhalten zu überraschen, die allen wohlvertraut scheinen.
    In dem Fall sind Arte und 3sat das fremde Terrain, das die aus RTL und Sat.1 und ProSieben und VOX und Kabel eins bekannten Helden der Unterschicht betreten müssten. Millionen von Deutschen würden, um ihre Lieblinge live zu erleben, zwei Sender einschalten, von deren Existenz sie bisher nichts ahnten; es würde deswegen überraschend Kulturgut auf Leergut prallen. Und alle Stammkunden von Arte und 3 sat, die sich als was Besseres dünken, die nie gesehen haben, wie spielend es in sich geschlossenen Anstalten gelingt, mit talentlosen Trotteln und tapsenden Vollidioten, mit kultigen Knallchargen und furchtlosen Zotenlümmeln traumhafte Einschaltquoten zu erzielen, würden durch diese Show auf ihren Heimatsendern erschaudernd die »Wonnen des Trivialen« (Medienforscher Norbert Bolz) erfahren. Über die haben sie bislang, eigenen Angaben zufolge bei jeder Zeile von Ekeln geschüttelt, allenfalls in den Feuilletons der Gebildeten gelesen.
    Der Begriff »Massenkultur« bekäme in einer solchen
Show eine ganz andere Bedeutung, denn Anspruch und Amüsement sind bekanntlich selten miteinander kompatibel. Es ist also ein Experiment.Wird es gelingen, die simplen Vergnügungen der Massen dadurch kulturell wertvoller zu gestalten, dass ihre Stars auf einem ganz anderen Feld auflaufen? Werden die Blöden trotz ihrer Blödheit die böse Absicht merken? Die fantasiereiche Taktik durchschauen, ihre Lieblinge lächerlich zu machen? Sie bloßzustellen und nackt vorzuführen?
    Bestimmt hätten 3sat und der deutsch-französische Kulturkanal Arte einen in ihrer von hohem Anspruch statt von hohen Quoten geprägten Geschichte noch nie erreichten und bestimmt nie wieder erreichbaren Marktanteil in der sonst den anderen Sendern hörigen Zielgruppe zwischen erster Zahnspange und erstem Zungenkuss. Und eventuell bliebe was hängen bei denen. Zum Beispiel ein noch zaghafter, aber zu Hoffnungen doch berechtigender Gedanke, diese Sender auch dann mal auszuwählen, wenn es nichts zu gewinnen gibt außer Erkenntnis.
    Der harte Kern der Fernsehsüchtigen lebt im Osten Deutschlands. Nicht nur bei den dortigen Jugendlichen wird mehr geglotzt als unter Gleichaltrigen im Westen. Die Ostdeutschen triumphieren in allen untersuchten Altersgruppen, von den Dreijährigen bis zu denen über siebzig. Liegt es daran, dass die Arbeitslosigkeit nach wie vor trotz aller Aufbauhilfen Ost doppelt so hoch ist wie die im Westen, also mehr Zeit
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