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Seelentod

Seelentod

Titel: Seelentod
Autoren: Ann Cleeves
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sofort her!»
    Der Mann auf der Veranda hielt Alice in die Höhe. Vera schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er einen ziemlich muskulösen Oberkörper haben musste, wenn er die Kleine so ohne weiteres hochheben konnte. Ob er wohl Fitness machte? Dann dachte sie, dass er ein bisschen wie ein Priester aussah. Einer dieser aufgeputzten Geistlichen in den prächtigen Roben, die während des Abendmahls den Kelch segneten und emporhielten, damit die Gemeinde ihn sah. Oder war das bei der Messe? Sie brachte die verschiedenen kirchlichen Rituale immer durcheinander.
    Der Mann öffnete die Hände und ließ das Mädchen in den See fallen. Es verschwand ohne jeden Spritzer.
    Ashworth hatte die Stelle erreicht, die dem Bootshaus am nächsten lag, und watete bereits ins Wasser. Jetzt schwamm er los, sein Haar war nass und glänzend wie bei einem Otter. Auf der Veranda versuchte Connie verzweifelt, an dem Mann vorbeizukommen, sie schrie und zerkratzte ihm das Gesicht. Doch Vera hielt den Blick fest auf Ashworth gerichtet. Er tauchte und kam wieder hoch, schüttelte sich das Wasser aus dem Haar, in den Armen hielt er die Kleine. Auf dem Rücken schwamm er zurück, den Körper des Mädchens hielt er dicht an seine Brust gepresst, bis das Wasser seicht genug war, dass er stehen konnte. Dann legte er sich die Kleine an die Schulter und schlang die Arme um sie. Vera dachte, dass sie nie wieder grob oder herablassend zu ihm sein wollte. Halb watend und halb schwimmend brachte er das Mädchen ans Ufer.

[zur Inhaltsübersicht]
    Kapitel Einundvierzig
    Vom Bootshaus aus sah Simon Eliot ihm regungslos zu. Dann drehte er sich ganz langsam um, vollführte einen vollendeten Hechtsprung von der Veranda und schwamm zum anderen Ende des Sees. Es war eine Show. Wie bei den durchtrainierten Bademeistern im Willows, wenn sie vor den Augen der schnuckeligen jungen Mütter ihre angeberischen Kunststückchen aufführten. Ihm musste doch klar sein, dass er nicht mehr entkommen konnte.
     
    Vera beschloss, Joe Ashworth das Kommando über den Einsatz zur Ergreifung von Eliot zu überlassen. Es bereitete ihr einige Genugtuung zu wissen, dass sie in Bezug auf den Mörder richtig gelegen hatte. Die Erleuchtung war ihr ganz plötzlich gekommen, beim Gedanken an den jungen Kellner, dem das Blut in den Kopf geschossen war, als er über Jenny Lister sprach. Jenny hatte einen unpassenden Liebhaber erwähnt. Wer konnte unpassender sein als der Verlobte ihrer Tochter? Und wer würde sich wohl am ehesten in eine ältere Frau verlieben als Simon Eliot, dessen eigene Mutter all ihre Kraft mit der Trauer um ihre beiden verlorenen Kinder aufgezehrt hatte? Vera mochte gar nicht daran denken, dass nun beinahe noch ein Kind zu Tode gekommen wäre.
    Hinter den Rücksitzen des Land Rovers fand sie ihre Sporttasche, darin ein Handtuch und einen nagelneuen Trainingsanzug, den sie sich gleich nach ihrem Eintritt in den Willows-Fitness-Club gekauft und nie getragen hatte.
    «Hier, ziehen Sie das an», sagte sie zu Ashworth. «Sonst holen Sie sich ja noch den Tod.»
    «Das kann ich unmöglich anziehen!» Er war schon immer eitel gewesen.
    «Ganz wie Sie wollen.»
    Schließlich fror er aber doch zu sehr. Er ging hinter die hohe Mauer, und als er wiederkam, war sein Haar zerzaust wie bei einem kleinen Kind, und er trug den Trainingsanzug. Die Beine waren etwas zu kurz und sahen ziemlich komisch aus über den durchweichten Büroschuhen. Wenn er sich nicht so heldenhaft verhalten hätte, hätte Vera jetzt mit ihrem Handy ein Foto gemacht und es an das übrige Team verschickt.
    «Seien Sie froh, dass ich nicht auf den Mädchenkram stehe und Rosa trage», sagte sie. Die Erleichterung ließ sie albern und übermütig werden. «Wie hätten Sie dann wohl erst ausgesehen?»
    Connie und Alice saßen auf dem Beifahrersitz im Wagen; Alice hatte schon wieder trockene Sachen an und war in Connies Mantel gewickelt. Nachdem Ashworth das kleine Mädchen an Vera übergeben hatte, hatte er Connie mit dem Boot an Land gebracht. Vera konnte das durchnässte Kind noch in den Armen spüren, die zerbrechlichen Knochen und das pochende Herz. Als würde man einen von Hectors Vögeln halten, dachte sie. Eine Eule vielleicht. Näher an das Gefühl, ein eigenes Kind im Arm zu halten, würde sie wohl nie wieder kommen.
    «Wollen Sie nicht bleiben und die Sache hier zu Ende bringen?», fragte Ashworth. «Wir können einen Streifenwagen kommen lassen, der Connie nach Hause fährt. Das Wasser ist schon ein
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